Das Auge von Tibet
werdet ihr auch verhaftet.«
»Aber Lau ist doch ertrunken«, sagte Akzu und tauschte einen besorgten Blick mit Jakli aus. »Zumindest heißt es, sie sei ertrunken.«
»Das habe ich auch gehört. Aber man hat keine Leiche gefunden. In der Stadt ist jedenfalls offenbar schon lange nichts mehr los gewesen.«
»Was meinen Sie damit?« fragte Shan.
Der Mechaniker schien ihn nur widerstrebend zur Kenntnis nehmen zu wollen, genau wie zuvor Jakli. »Wenn die Armee jemanden erschießt, gilt das als Verteidigung des Vaterlands. Wenn die Kriecher der Öffentlichen Sicherheit jemanden erschießen, geht es erklärtermaßen um den Schutz der öffentlichen Sicherheit. Wenn wir einen von denen erschießen, nennt man das heimtückischen Mord. So einfach ist das. Als würde man Nägel in ein Brett schlagen. In den Formularen der Chinesen ist ein Teil der Angaben von vornherein eingedruckt.
Aber das hier? Eine alte Frau, die verschwindet? Normalerweise interessiert die Anklägerin sich herzlich wenig für das Wohlergehen der Kasachen oder Uiguren.«
»Diesmal hingegen läßt sie Kontrollpunkte errichten und Zeugen ergreifen«, stellte Shan fest.
»Das sind keine Zeugen«, erwiderte der Mann, »sondern die Akteure für ihre neueste Inszenierung. Das politische Aufgebot.«
Shan nahm den Mann eingehend in Augenschein. Vermutlich hatte der Fremde nicht sein ganzes Leben als Mechaniker zugebracht. »Die Anklägerin führt etwas Bestimmtes im Schilde«, sagte er und nickte zustimmend.
Der Mann hob abermals die Hand, als wolle er zum Ausdruck bringen, daß solch gefährliches Gerede nun wirklich ein Ende haben müsse. Akzu drängte Jakli sanft zur Tür hinaus, während der Mechaniker sich wieder seiner Zeitung widmete.
Kurz darauf standen die beiden neben der Fahrertür. Akzu zog hinter der Sonnenblende des Wagens eine Landkarte hervor und zeigte Jakli einige gepunktete Linien, die kreuz und quer neben dem dunklen Strich der Fernstraße nach Kashi verliefen. »Beeil dich, Nichte«, sagte der Clanälteste. »Und dann kehre so schnell wie möglich in die Stadt zurück. Man wird dich in der Fabrik vermissen. Du gehst ein viel zu großes Risiko ein. Denk an Nikki. Denk an deine Tanten.«
Nikki. Shan erinnerte sich an Malik und den Löffel, an dem er schnitzte. Als der Junge von dem Geschenk erzählte, hätte er beinahe noch einen weiteren Namen genannt.
»Immer«, sagte Jakli mit zurückhaltendem Lächeln, das sowohl Akzu als auch Shan galt. »Paß auf Malik auf, Onkel. Und auf die Kinder.« Sie umarmte ihn und erstarrte plötzlich.
Auf dem Schotter vor der Werkstatt kam rutschend ein leuchtendroter Geländewagen zum Stehen. Shan wußte, daß die allradgetriebenen Fahrzeuge dieses Typs in einer amerikanischen Jointventure-Fabrik in Peking hergestellt wurden. In seinem früheren Leben hatte er den Betrieb einst persönlich überprüft. Auf der Vordertür des brandneuen Gefährts prangte ein großes goldenes Emblem, das Kopf und Schultern eines Mannes und einer Frau zeigte, deren Arme sich vor einer aufgehenden Sonne kreuzten. Eine der Hände hielt einen Hammer, die andere einen Schraubenschlüssel. Unter der Sonne sah man einen Ölbohrturm, einen Traktor und ein Tier, bei dem es sich um ein Schaf handeln konnte. Auf einmal wurde Shan klar, daß er das Symbol bereits gesehen hatte, zwei Nächte zuvor, auf dem Lastwagen, der ihnen im Kunlun-Gebirge begegnet war. Die Brigade war eingetroffen.
Hastig verließ Akzu die Garage, trat ins Sonnenlicht und stellte sich direkt vor den roten Geländewagen, als wolle er die Neuankömmlinge ablenken. Unterdessen stieg ein Han-Chinese aus dem Fond, ein Mann von vielleicht dreißig Jahren, mit Sonnenbrille, einer amerikanisch anmutenden Baseballmütze und einem roten Nylonparka, auf dessen Brust eine kleine Ausgabe des goldenen Emblems abgebildet war. Er klopfte mit einem Knöchel an das Fenster des Beifahrers und wies auf den Sperrholzverschlag im Schutz des Gebäudes. Die beiden Männer auf den Vordersitzen stiegen ebenfalls aus. Der Fahrer hielt ein Klemmbrett in der Hand, der andere einen Taschenrechner. Mit schnellen Schritten eilten sie auf die kleine Kammer zu.
Shan merkte, daß jemand ihn am Ärmel zupfte. Jakli zog ihn hinter den Schildkrötenlaster. Er ließ sich in den Schatten führen und beobachtete währenddessen, daß eine zweite Gestalt aus der hinteren Tür des roten Wagens stieg, ein großer schlanker Mann mit schmalem Gesicht und hohen Wangenknochen, dessen brauner Mantel ihm
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