Das Auge von Tibet
Arbeit. Darin liegt die Zukunft. Privatisierung und Integration, das ist der Weg einer starken Nation.«
So langsam erkannte Shan in Ko den Vertreter einer ganz neuen Spezies. Shan war in einer Welt aufgewachsen, in der sich alles um den Parteirang drehte. Es kam dort dermaßen auf den politischen Stellenwert einer Person an, daß die Funktionäre manchmal ihre eigenen Stühle in die Sitzungssäle mitbrachten, um die anderen Teilnehmer einzuschüchtern, weil sogar die Qualität der Büromöbel Aufschluß darüber gab, welchem der vierundzwanzig Parteiränge ein Beamter angehörte. Aber Ko war kein Regierungsvertreter. Zwar schien seine Miene unterschwellig das kalte Hohnlächeln eines Parteifunktionärs zur Schau zu stellen, doch er war ein Geschäftsmann.
Akzu starrte zu Boden. Er wußte, was der von Ko erwähnte Weg mit sich brachte. Das Ende des Clans des Roten Steins. Shan erinnerte sich an Akzus gepeinigtes Gesicht, als der Clanälteste erfahren hatte, daß man den Kindern die Schriften der Partei einbleuen würde.
»Sie werden schon noch sehen, Genosse. Wir wollen nur helfen. Falls der Armutsplan nicht funktioniert, geben Sie mir sofort Bescheid«, sagte Ko, legte Akzu erneut eine Hand auf die Schulter und ging dann zu dem Lastwagen, mit dem Jakli und die anderen hatten aufbrechen wollen. Er öffnete die Tür und bedeutete Shan, er möge einsteigen. »In der Zwischenzeit«, sagte er und sah dabei nur Jakli an, »haben Sie und Ihre geschätzten Freunde bestimmt noch wichtige Dinge zu erledigen. Lassen Sie sich durch uns nicht aufhalten.«
Ko lächelte ununterbrochen. Er schien sehr zufrieden darüber zu sein, Shan, Jowa und Lokesh entdeckt zu haben. Zufrieden und nicht im mindesten geneigt, sie aufzuhalten oder unter Druck zu setzen. Und das erschreckte Shan mehr als alles andere.
Als Jakli und Jowa zur Fahrerseite des Lastwagens gingen, folgte der tibetische Lehrer ihnen. Er wirkte verunsichert und nervös.
»Weshalb bist du hier?« knurrte Jowa auf tibetisch.
»Das habe ich doch schon gesagt. Ich bin Lehrer«, entgegnete Kaju auf mandarin.
»Ich meine hier, heute, in dieser Werkstatt.«
Kaju schaute sich kurz zu Ko um. »Ich habe darum gebeten, mitkommen zu dürfen«, sagte er wiederum auf mandarin und weigerte sich somit hartnäckig, Jowa in der gemeinsamen Muttersprache zu antworten. »Hier im Schatten des Kunlun gibt es viele Verstecke. Ich möchte erklären, daß es niemandem nutzt, sich zu verstecken.«
Jowas Augen verengten sich. Er war mißtrauischer als je zuvor.
»Wer versteckt sich?« fragte Jakli und behielt Ko im Auge, der mittlerweile außer Hörweite an seinem eigenen Wagen lehnte und noch immer zufrieden lächelte.
»Vielleicht ist verstecken nicht das richtige Wort. Weglaufen trifft es vermutlich besser. Eventuell könnten Sie ja behilflich sein.«
»Wer?« Jakli ließ nicht locker.
»Natürlich die Kinder. Die Waisen«, sagte Kaju. »Laus Kinder. Wir müssen ihnen die Hand reichen und ihnen vorsichtig beibringen, weshalb sie nun einen neuen Lehrer haben und unbeirrt weitermachen müssen. Die Auseinandersetzung mit dem Tod hat durchaus lehrreiche Aspekte.«
Das wütende Funkeln in Jaklis Blick war unverkennbar.
»Ich möchte den Kindern helfen«, versicherte Kaju. »Wir dürfen die Klasse nicht schließen, oder wir werden sie verlieren, und Laus ganze Mühe wird umsonst gewesen sein. Aber nach Laus Verschwinden ist nur die Hälfte der Kinder zu der letzten Sitzung erschienen. Wir alle müssen uns vor dem Argwohn hüten.«
Eine besondere Universitätsausbildung, hatte Ko gesagt, erinnerte Shan sich, während er den Tibeter betrachtete. Zumindest das Vokabular war Kaju in Fleisch und Blut übergegangen.
Jowa drängte Jakli auf den Fahrersitz und schloß hinter ihr die Tür. Dann drehte er sich zu Kaju um. »Jemand ermordet die Kinder, du Vollidiot«, flüsterte er dermaßen leise auf tibetisch, daß Shan kaum ein Wort verstand.
Kaju hingegen hatte ihn genau gehört. Sein Unterkiefer klappte herunter. Sein Gesicht verlor sämtliche Farbe. Völlig verwirrt stand er da und sah zu, wie Jowa und Lokesh auf die Rückbank des Lastwagens stiegen. Jakli fuhr los und hatte den Garagenhof bereits zur Hälfte durchquert, als sie plötzlich hart auf die Bremse trat. Hinter den Pappeln entlang der Straße kam soeben ein weiteres Fahrzeug in Sicht, ein kantiger schwarzer Personenwagen. Shan erschrak. Es war ein etwa fünfzehn Jahre alter Hong Qi, eine Limousine mit roter Standarte, wie man
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