Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
mindestens zwei Größen zu klein war. Darunter ragten die blauen Hosenbeine einer Fabrikarbeiterkluft hervor. Shan schaute zu Lokesh und erkannte an dessen jähem Interesse, daß auch sein alter Freund die Gesichtszüge des Mannes in gleicher Weise deutete. Der hochgewachsene Fremde war unverkennbar tibetischer Abstammung.
    »Akzu«, rief der Chinese mit der Mütze dem Clanältesten entgegen. »Was für eine freudige Überraschung!« Seine Stimme war so aalglatt wie sein Gesicht. Eine östliche Stimme, der man die Universitätsausbildung anhören konnte.
    »Ko Yonghong«, flüsterte Jakli. »Der Bezirksverwalter der Brigade.«
    Akzu begrüßte den jüngeren Mann leutselig, umrundete dann jedoch langsam den roten Wagen, obwohl Ko ihm eine Hand auf die Schulter legte. Der alte Kasache wollte den Chinesen von der Werkstatt und damit von Jakli und ihren Begleitern fernhalten.
    Ein Windstoß schlug die Schöße von Kos Parka zurück und gab den Blick auf ein weißes Hemd frei. Erst da bemerkte Shan, daß der Fahrer und Beifahrer hellbraune Hemden trugen, saubere Hemden mit Kragen und Manschetten wie diejenigen, die er auf der Gebirgsstraße im Kunlun gesehen hatte. Angestrengt spähte er durch die Fenster des Geländewagens, als hoffe er, dort Gendun zu entdecken. Dann nahm er sorgfältig den Bezirksverwalter in Augenschein. Ko Yonghong. Ko, der ewig rot bleibt. Ein solcher Name ließ auf Eltern schließen, die ehrgeizige Parteimitglieder waren. Dieser Mann hatte vor, den Clan des Roten Steins zu vernichten.
    Plötzlich und bevor Shan oder Jakli ihn zurückhalten konnten, trat Lokesh aus dem Schatten und hob grüßend eine Hand in Richtung des tibetisch aussehenden Fremden, der auch aus dem Wagen gestiegen war.
    »Tashi delek«, sagte er freundlich. Hallo, auf tibetisch.
    Obwohl er leise gesprochen hatte, als sei der Gruß nicht für zufällige Lauscher bestimmt, ließen die Worte den sechs Meter entfernten Ko Yonghong abrupt innehalten. Der Chinese fuhr herum, starrte Lokesh eindringlich an, holte ein goldenes Feuerzeug hervor und entzündete eine Zigarette. Dann bedachte er Akzu mit einem breiten Grinsen, als habe der Kasache ihm ein unverhofftes Geschenk bereitet.
    »Ni zao. Ni hao ma?« entgegnete der Tibeter mit verlegenem Lächeln und einem kurzen Seitenblick auf Ko. Guten Morgen. Wie geht es Ihnen? auf mandarin. »Ich heiße Kaju. Kaju Drogme.«
    Diese Worte ließen auch Jakli unverzüglich aus der Dunkelheit treten. Im selben Moment kam Ko an Kajus Seite, ohne den Blick von Lokesh abzuwenden. Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und musterte gemächlich die Reihe der Lastwagen in der Garage, als wolle er sich vergewissern, ob dort im Dunkeln noch weitere Überraschungen lauerten.
    Nicht er hatte zwei Nächte zuvor den Trupp auf der Straße im Kunlun befehligt. Aber hatte er womöglich rauchend in dem dunklen Führerhaus des Lastwagens gesessen? überlegte Shan. Was wollte die Brigade in Tibet? Worauf warteten diese Leute auf einer verlassenen Straße mitten in der Nacht? Was habt ihr Gendun angetan? hätte er am liebsten gebrüllt. Doch dann kam ihm eine andere Frage in den Sinn. Wenn die Brigade sich tatsächlich so sehr für Tibeter interessierte, warum hatte man in jener Nacht nicht auch gleich Jowa und Lokesh verhaftet? Shan glitt um die Vorderseite des Lastwagens herum ins Licht. Er verspürte den plötzlichen Drang, Lokesh zu beschützen.
    »Der Rote Stein hat keine Fahrzeuge«, sagte Akzu auf einmal, und Shan begriff, was die Männer dort in der Garage taten. Sie nahmen eine Bestandsaufnahme vor.
    Ko stieß den Rauch seiner Zigarette durch die Nasenlöcher aus und ging an Kaju vorbei zur Motorhaube des roten Geländewagens, von wo aus er alle Anwesenden im Blick behalten konnte. »Ich darf Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen, daß man eine Erweiterung des Wohlstandsprogramms beschlossen hat. Auch der Fuhrpark wird privatisiert.«
    »Wohlstand?« fragte Akzu lakonisch. Shan sah ihm an, daß er sich mit aller Macht zurückhielt, um den Brigadeverwalter möglichst nicht gegen sich aufzubringen.
    »Beseitigung der Armut hört sich irgendwie so erniedrigend an«, sagte Ko und klang dabei eher wie ein Politoffizier als wie ein Geschäftsmann. »Denken Sie doch nur an all Ihre zukünftigen Unternehmensanteile, Genosse. Jetzt wird Ihnen auch diese Werkstatt gehören. Schon bald haben wir hier einen richtigen Börsenhandel. Einige Sonderberater aus Peking arbeiten bereits daran. Sogar Experten aus

Weitere Kostenlose Bücher