Das Auge von Tibet
Amerika wurden hinzugezogen.«
Einer der Männer, Kos Fahrer, kam plötzlich aus dem hinteren Bereich der Halle nach vorn gelaufen. Ein Schraubenschlüssel flog an seinem Kopf vorbei. Ko tat so, als hätte er nichts davon bemerkt. Der Mann blieb stehen, starrte wütend in die Dunkelheit zurück, ging dann zur Rückseite des Geländewagens und öffnete die Heckklappe. Er wühlte in einem großen Pappkarton, zog eine Stange Zigaretten daraus hervor und wagte sich wieder in die Garage.
»Ich bin wirklich froh, daß Sie sich ebenfalls fachkundiger Beratung versichert haben, Genosse«, verkündete Ko mit schmalem Lächeln und einer weit ausholenden Geste in Richtung der anderen Anwesenden. Shan konzentrierte sich auf die Augen des Mannes, während dieser sie alle mit beunruhigend zufriedener Miene betrachtete. Ko Yonghong war ein Mann, der stets den eigenen Nutzen suchte und aus jeder neuen Bekanntschaft sogleich einen Vorteil oder ein Druckmittel ziehen wollte, folgerte Shan. Gelangweilt breitete der Direktor die Arme aus und nickte langsam, als wolle er betonen, wie gleichgültig ihm die wahre Identität von Akzus Begleitern sei. Als habe er bereits erkannt, um wen es sich handelte, und halte es für einträglicher, keine weiteren Fragen zu stellen.
»Sie sind der neue Lehrer«, sagte Jakli unvermittelt zu Kaju.
»Als Ersatz für Tante Lau.«
Die Feststellung schien den Tibeter zu erleichtern. »Ja, wir führen ihre gute Arbeit fort«, sagte er mit schwacher Stimme und nervösem Blick auf Ko. »Die Brigade hat einen Beitrag zu der Finanzierung geleistet. Genosse Direktor Ko möchte für die Waisenkinder einen etwas geregelteren Rahmen bereitstellen. Ein offizielles Programm zur kulturellen Integration in der Schule der Stadt. Mit einem eigenen Klassenzimmer.«
»Was Lau für die Kinder getan hat, konnte keine Schule ihnen bieten«, erwiderte Jakli.
Ko kam näher und hob die Hände, als würde er sich ergeben. »Es geht nicht um Schulunterricht im traditionellen Sinn«, behauptete er ernst. »Wir wollen lediglich die Mittel der Brigade zur Verfügung stellen.«
»Die Mittel der Brigade sind nicht unbedingt das, was die Kinder benötigen«, sagte Jakli mit funkelnden Augen.
Ko neigte den Kopf, sah Jakli durchdringend an und beugte sich vor. »Sie sind sehr hübsch«, sagte er, noch immer in dem gleichen ernsten Tonfall. »Ich könnte Ihnen eine Anstellung verschaffen.«
Jakli ignorierte ihn. »Die Kasachen und Uiguren können sich selbst um ihre Waisen kümmern.«
Ko hob abermals beschwichtigend die Hände. »Ich bin ein Freund Ihres Volkes«, sagte er lächelnd. »Wir könnten mit den Kindern eine Sportmannschaft auf die Beine stellen und sichergehen, daß sie alle notwendigen Tests durchlaufen, um am Ende gar auf der Auswahlliste unserer Sonderprogramme für die Jugend zu landen.« Ko klopfte Kaju auf die Schulter. »Aber das alles liegt in den Händen unseres neuen Lehrers. Wir wollen die Kinder keinesfalls verschrecken und gegen ihren Willen zu etwas zwingen. In erster Linie soll allgemeine Zustimmung herrschen. Bestimmt wird es zunächst eine traumatische Erfahrung für sie sein, wenn sie von unserem Verlust erfahren.«
»Unserem Verlust?«
»Bitte glauben Sie mir, daß Lau von allen Seiten hochgeschätzt wurde. Sie war ein wahres Juwel. Falls Bedarf besteht, können wir den Kindern psychologische Betreuung anbieten.«
»Wir führen den Unterricht fort. Ich möchte nicht, daß die Kinder auch nur eine Stunde versäumen«, sagte Kaju sanft. »Sie müssen weiter vorankommen und mehr über die neue Gesellschaft erfahren. Das wäre bestimmt auch in Laus Sinn gewesen.«
Der Mann schien Jakli zu überraschen. Shan spürte, daß sie eigentlich lieber wütend sein und Laus Nachfolger Ablehnung entgegenbringen wollte. Doch der junge nervöse Tibeter schien sich aufrichtig um die Kinder zu sorgen.
»Sie sind schnell hergekommen«, stellte Jakli fest.
»Ich war schon hier.«
Der Mechaniker trat ins Sonnenlicht hinaus. In einer Hand hielt er die Stange Zigaretten und mit der anderen hob er seinen Schraubenschlüssel von dem staubigen Boden auf. Dann nahm er am Ende des Gebäudes im Schatten eines Baumes Platz, öffnete die Packung mit sichtlichem Behagen und zündete sich eine Zigarette an.
»Wie meinen Sie das?« fragte Jakli.
»Kaju hat an der Universität von Chengdu eine besondere Ausbildung erhalten. Er ist Beauftragter für interkulturelle Beziehungen«, erklärte Ko. »Wir sind sehr stolz auf seine
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