Das Auge von Tibet
sie häufig den leitenden Funktionären in Chinas entlegenen Provinzen überließ, nachdem man in den östlichen Städten keine Verwendung mehr für die Fahrzeuge hatte. Jakli stieß ein ersticktes Keuchen aus und packte den Türgriff, als wolle sie am liebsten wegrennen.
Die Limousine hielt unmittelbar vor dem Geländewagen der Brigade und blockierte ihm den Weg. Vom Fahrersitz stieg ein muskulöser junger Han-Chinese und öffnete die hintere Tür. Eine Frau in einem dunkelblauen Kostüm kam zum Vorschein. Sie war Mitte Vierzig und hatte die hohen Wangenknochen und das breite Gesicht einer Nordchinesin. Ihr Blick war streng, um ihren Mund spielte ein anscheinend oft praktizierter Ausdruck der Verachtung, und ihr Haar hatte sie im Nacken zu einem festen Knoten zusammengefaßt, was ihre ernste Miene nur noch unterstrich.
Shan sah, daß Ko Yonghong den Neuankömmlingen mürrisch entgegenblickte und etwas in Richtung Kaju rief, das den Tibeter im Schatten der Garage verschwinden ließ. Dann wandte er sich mit kaltem Lächeln der Frau zu und begrüßte sie mit einem angedeuteten Nicken.
Shan schaute wieder zu Jakli, die nervös die Frau im Auge behielt. Er brauchte gar nicht erst zu fragen, um wen es sich handelte. Die Jadehure. Anklägerin Xu Li.
»Sie haben gesagt, sie würde mit Laus Tod etwas Bestimmtes im Schilde führen«, flüsterte Jakli. »Was haben Sie damit gemeint?«
»Sie läßt Laus Bekanntenkreis verhaften. Errichtet Kontrollpunkte. Das ist eine Kampagne, keine Untersuchung. Ein leitendes Parteimitglied in Peking hat einmal zu mir gesagt, man solle ein Verbrechen nie als soziales Problem, sondern vielmehr als politische Chance begreifen, und für einen Angehörigen der Strafverfolgungsorgane gäbe es keine bessere Gelegenheit als einen Mordfall.«
»Gelegenheit?«
Unterdessen wandte keiner der beiden den Blick von Anklägerin Xu ab. Sie stand neben dem Wagen, schaute Ko Yonghong auffordernd entgegen und wartete darauf, daß er zu ihr kommen würde.
Eine dritte Person stieg aus der Limousine. Ein schlanker Mann mit pockennarbigem Gesicht und einer adretten grauen Uniform, deren Jacke vier Taschen aufwies. Ein Offizier des Büros für Öffentliche Sicherheit.
»Sui«, zischte Jakli. »Leutnant Sui. Aus der Kaserne in Yutian.«
»Vor ein paar Jahren hat sich in Peking ein Mord ereignet«, fuhr Shan fort und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf den Offizier der Kriecher. »Ein arbeitsloser Jugendlicher hat einen Straßenhändler erstochen, einen alten Mann, der Nudeln verkaufte. Der Mörder wurde noch am Tatort verhaftet. Er saß mit blutbeflecktem Hemd neben der Leiche und aß eine Schale Nudeln. Nach einer Woche gründlicher Untersuchungen gab die Öffentliche Sicherheit jedoch bekannt, der Händler habe zu einer Familie von Landbesitzern gehört und diese Tatsache bei der Angabe des persönlichen Hintergrunds unterschlagen, als er sich für eine Verkaufslizenz bewarb. Nach Durchführung einer politischen Überprüfung sei man zu dem Schluß gekommen, der Händler habe durch diese Lüge fortwährenden Verrat am Volk begangen, so daß sein gesellschaftsfeindlicher Betrug unweigerlich Gewalt nach sich ziehen mußte. Die Bürger wurden aufgefordert, eventuell unvollständige Daten ihrer Meldeformulare zu ergänzen oder, besser noch, die Behörden auf andere ehemalige Grundbesitzer aufmerksam zu machen, die womöglich ebenfalls versuchten, ihre Klassenzugehörigkeit zu verheimlichen. Die Parteizeitungen druckten lange Artikel, und im Fernsehen wurden Reden gehalten. Am Ende hat man dreißig oder vierzig Leute verhaftet und ins Gefängnis geworfen.«
Shan sah wieder zu Ko. Der mürrische Gesichtsausdruck war verschwunden. Statt dessen starrte der Direktor nun wütend und mit deutlicher Abneigung den Offizier an. Anscheinend mochte Ko die Öffentliche Sicherheit nicht; zumindest hatte er wenig für Leutnant Sui übrig.
Der Kriecher verharrte kurz neben Xu, ließ den Blick wie ein Raubtier über die Umgebung schweifen und trat in den Schatten der Werkstatt.
»Aber der Mörder wurde doch sicher auch bestraft«, sagte Jakli.
»Mit einem Jahr Arbeitslager, weil er keine Aufenthaltserlaubnis hatte.«
»Das hier ist anders. Laus Tod hatte keine politischen Gründe.«
»Ihr Tod?« fragte Shan. »Sie haben gesagt, die Anklägerin könne sich dessen nicht einmal absolut sicher sein. Ihr liegt lediglich ein Bericht über Laus Verschwinden vor.« Eine Bewegung am Ende der Grundstücks erregte seine
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