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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Aufmerksamkeit. Hinter Xus Rücken führte Akzu leise sein Pferd um das Gebäude. »Über welches politisch bedingte Problem klagt Xu am lautesten?«
    »Über die Clans der Grenzregion. Sie sagt, die Leute seien verantwortungslos und reaktionär und würden nur Unruhe stiften.«
    Shan nickte erbittert. »Lau war Lehrerin. Ein mäßigender Einfluß. Sie hat versucht, die Waisen der Clans in den Schoß der Gemeinschaft zu holen. Also haben die Grenzclans sie als Feindin betrachtet.«
    »Unsinn! Sie war eine von uns. Niemals hätten wir.«
    »Indem sie sich der sozialistischen Dialektik verweigern«, fuhr Shan unbeirrt fort, um die mutmaßliche Geisteshaltung der Anklägerin zu erklären, »haben die Grenzclans sich eigenhändig von dem wohltuenden moralischen Einfluß des Staates abgeschnitten. Sie hegen feindselige Gefühle und verspüren keinerlei Verantwortung gegenüber der Gesellschaft.« Er wies auf Xu. »Die Anklägerin muß hoffen, daß Lau tot ist. Das wäre nämlich der Beweis für die gesellschaftsfeindliche Haltung und Grund genug für die Vernichtung der Clans.«
    Jakli sagte nichts. Sie biß sich auf die Lippen und starrte mit Tränen in den Augen unverwandt Xu an.
    Ko wollte auch, daß die Clans verschwanden. Das Programm zur Beseitigung der Armut würde diesen Zweck erfüllen. Dennoch schienen die Anklägerin und Ko wenig gemeinsam zu haben, als würden sie die Clans aus gänzlich verschiedenen Gründen beseitigen wollen oder vielleicht auch auf gänzlich verschiedene Weisen. Dabei saß Xu vermutlich am längeren Hebel, überlegte Shan. Ko war wahrscheinlich bloß ein guter Soldat der früheren Armeebrigade. Die Anklägerin hingegen verfügte über weitaus mehr Einfluß. Kos Vorgesetzte saßen in einem Firmenbüro in Urumchi. Xu Lis Vorgesetzte saßen in Peking.
    Auf einmal klopfte jemand an die Fahrertür. Jakli wandte den Kopf und zuckte zusammen. Leutnant Sui starrte durch die Scheibe, sein Gesicht war so schmal und hart wie eine Axt. Jakli wollte das Schloß verriegeln, doch Shan hielt sie zurück. Einen Moment lang sträubte sie sich, gab dann aber nach und öffnete die Tür, als Sui mit ausgestrecktem Arm auf eine Stelle vor dem Lastwagen deutete.
    Kurz darauf standen Lokesh, Shan, Jowa und Jakli in einer Reihe vor dem Leutnant der Kriecher. Er fragte sie nicht nach ihren Papieren, sondern machte sich mit siegreicher Miene auf einem kleinen Schreibblock Notizen, wobei er jeden der vier nacheinander in Augenschein nahm, als würde er peinlich genau ihre Personenbeschreibungen festhalten wollen. Shan wandte sich um und sah, daß Akzu mit bleichem Gesicht und samt seinem Pferd an der Ecke der Garage stand. Ganz in der Nähe saß der Mechaniker und schüttelte zornig den Kopf.
    »Die Öffentliche Sicherheit hat das Armutsprogramm um einige Punkte ergänzt«, verkündete Sui plötzlich. Seine Stimme hatte einen hohlen, metallischen Klang. »Die Pferde müssen zusammengetrieben werden, denn sie stellen ein Sicherheitsrisiko dar.« Langsam und kühl sah er einen nach dem anderen an, mit genau der Art von Blick, die nach Shans Erfahrung absolut typisch für die Angehörigen der Öffentlichen Sicherheit war. »Sie sind gemeinsam mit den restlichen Viehbeständen in Yutian abzuliefern.« Bei Shan hielt er inne und musterte ihn von Kopf bis Fuß, von dem kurzgeschorenen schwarzgrauen Haar über das lose Ende des verschlissenen und viel zu langen Gürtels, der um seine schmale Taille lag, bis hin zu den billigen Vinylschuhen, die inzwischen längst rissig und von einer Staubschicht überzogen waren.
    »Die Pferde gehören euch nicht«, sagte Jakli gereizt und starrte dabei Suis Brust an, als würde sie dort nach einem Herz suchen. »Schon seit der Zeit der großen Khane sind die Pferde stets Eigentum der kasachischen Stämme gewesen.«
    »Genau«, erwiderte Sui mit humorlosem Lächeln, als hätte Jakli in seinem Sinne argumentiert. »Wir wissen, was die Khane China angetan haben.«
    Shan sah ihn ungläubig an. Es war mittlerweile fast achthundert Jahre her, daß die Khane, die Vorfahren der heutigen Mongolen und Kasachen, China überfallen und die Sung durch die eigene Yuan-Dynastie abgelöst hatten. Aus dem Augenwinkel bemerkte Shan eine Bewegung. Er wandte den Kopf und sah, daß Akzu sich langsam vortastete und sein Pferd mit wildem Blick in Richtung des Kriechers führte, als wolle der zähe alte Kasache Sui angreifen.
    »Es wird Ihnen niemals gelingen, all unsere Pferde zu finden«, sagte Akzu gehässig

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