Das Auge von Tibet
unerwünschten Elementen abgegeben.«
Shan wußte, daß Jakli damit sich selbst, Akzu und die Nomaden meinte. Vielleicht auch die Maos.
»Aber wer stand ihr am nächsten? Hatte sie einen Gehilfen? Womöglich wurde jemand von ihr ausgebildet. Ich muß wissen, wie ihre Reaktion ausgesehen hat, als sie vom Verlust ihres Ratssitzes erfuhr. War sie wütend? Verängstigt? Erleichtert?«
»Niemand stand ihr nahe.«
»Niemand? Oder jemand, den ich nicht kennenlernen soll?«
Jakli schien über diese Frage nachzudenken, während sie sich mit einem Nicken von Lau verabschiedete und dann zurück in die größere Kammer trat. »Es ist kompliziert. Ich möchte, daß Sie den Mörder finden. Aber dies ist ein Land voller Geheimnisse. Die Chinesen sind dafür verantwortlich. Es könnte sich als gefährlich erweisen, Sie über bestimmte Dinge zu informieren.«
»Gefährlich für wen?«
»Für mich. Für Sie. Für andere.«
»Meinen Sie den Widerstand? Die lung ma?«
»Widerstand? Es gibt keinen wirklichen Widerstand. Man sammelt bloß Informationen. Was sollten wir auch gegen die Volksbefreiungsarmee oder die Öffentliche Sicherheit ausrichten können? Die Tibeter haben es versucht und sind mit Vorderladern und Schwertern gegen Maschinengewehre angetreten. Eine Million Menschen sind gestorben. Nein, kein Widerstand. Eine Erhaltungsbewegung, auf mehr kann niemand zu hoffen wagen. Lau hat es der zheli hundertmal eingeschärft. Bewahrt das Gute, lernt aus dem Schlechten.«
Eine Minute später befanden sie sich kurz vor dem Ende des Tunnels. Jowa und Lokesh knieten bereits draußen neben der alten Kiefer und ordneten die dargebrachten Zweigfiguren sorgfältig wieder an. Shan blieb im Eingang stehen und hielt seine Taschenlampe dicht vor die Wand. Er hatte etwas bemerkt, das ihm zuvor nicht aufgefallen war, eine Kreidezeichnung, einige Striche innerhalb eines fünfzehn Zentimeter durchmessenden Kreises. Auf den ersten Blick schien es sich um ein Ei unter einem kleinen Teller zu handeln, auf dem aus einem knopfähnlichen Gebilde eine Blume wuchs. Unter dem Ei waren zu beiden Seiten Wellenlinien zu sehen, als würde ein Banner im Wind flattern.
Das alles kam Shan sehr bekannt vor. Er leuchtete jeden Winkel genau aus. Die weiße Kreide war erst vor kurzem auf den Felsen aufgetragen worden.
»Wissen Sie, was das ist?« fragte Jakli hinter ihm.
»In Tibet nennt man es bumpa . Eine geweihte Schatzvase. Eines der acht heiligen buddhistischen Symbole.«
»Eine Vase?«
»Eine Urne. Ein heiliges Gefäß«, sagte Shan und runzelte verwirrt die Stirn. »Es bedeutet verborgener Schatz.«
Jakli starrte die Kreidezeichnung einen Moment an, ging dann langsam nach draußen und ließ Shan allein zurück. Während er dort stand, traf ein besonders starker und eisiger Luftzug seinen Rücken. Laus Atem.
Lokesh war noch immer in die Arbeit vertieft. Er nahm die umgefallenen Zweigtiere und stellte sie mit dem Rücken zur Höhle in einem Halbkreis vor dem Eingang auf. Dabei sang der Tibeter eines seiner alten Lieder und hielt manchmal inne, um die kunstvolle Ausfertigung einer der Figuren zu bewundern.
Als Jakli sich vorbeugte, um ihm zu helfen, berührte Shan sie an der Schulter und wies auf Jowa, der ganz in der Nähe stand und das Dickicht am anderen Ende der Lichtung beobachtete. Er hatte eine Hand nach hinten ausgestreckt und bedeutete Shan mit erhobenem Finger, sich nicht zu bewegen. Die andere Hand schwebte über seinem Messer.
Der Luftzug erstarb, und Shan erkannte, weshalb Jowa beunruhigt war. Aus dem Dickicht drang ein Geräusch, ein leises Knurren, wie von einem Tier. Shan trat an Jowas Seite. Nein, das war kein Knurren; es glich eher einem Stöhnen.
Dann bewegte sich etwas dort vor ihnen. Jowa rannte los.
Das Wesen war zwischen den Felsen für einen Augenblick zu sehen, eine geduckte schwarze Gestalt, die nun versuchte, ins Unterholz zu flüchten. Jowa verschwand zwischen den dichten Rhododendren, und Shan folgte ihm. Schon nach wenigen Schritten wurde er von Jakli überholt, die sich schnell und leise wie eine geübte Jägerin vorpirschte.
Die Gestalt lief immer schneller. Shan sah sie erneut, als sie vierzig oder fünfzig Meter vor ihm über einen von der Sonne beschienenen Felsen kletterte. Sie war schwarz, nur die beiden Hinterbeine leuchteten hellrot. Dann gab sie wieder ein Geräusch von sich, ein gequältes Heulen, das ihre Angst verriet. Shan beschleunigte den Schritt und ignorierte die Zweige, die ihm ins Gesicht
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