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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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»Manchmal singe ich tibetische Lieder, um nicht aus der Übung zu geraten. Bajys hat nie ein Wort verstanden. Er ist Kasache, ein Moslem.« Ihre Stimme erstarb, und ihr Blick ruhte auf dem kleinen Mann. Er hatte die Gebetskette fest um die Finger seiner linken Hand gewickelt, die rechte Hand darüber gelegt, wiegte sich vor und zurück und murmelte ein tibetisches Mantra.
    Aber Jakli ließ nicht locker. »Wo bist du gewesen?« fragte sie, diesmal auf tibetisch. »Wieso bist du weggerannt? Alle glauben, du hättest den Jungen ermordet.« Die Verwirrung schien ihre Zunge zu lähmen.
    »Tante Lau ist immer zu dem alten Ort im Sand gegangen«, sagte der kleine Mann plötzlich auf tibetisch. »Als ich sah, daß Khitai tot war, mußte ich zu ihr.« Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. »In der Hütte ist sie nicht gewesen, also bin ich hinaus in den Sand gelaufen. Den ganzen Tag und einen Teil der Nacht habe ich gebraucht. Ich bin zur lhakang gegangen, der heiligen Stätte.« Er streckte die Arme aus, als wolle er eine unsichtbare Bedrohung abwehren, und drückte die Perlen dann fest gegen seine Stirn.
    »Khitai ist nicht tot«, sagte Jakli. »Es war der andere Junge.«
    Doch Bajys schien sie nicht zu hören. »Ich habe in die Hütten in der Nähe der lhakang gesehen«, fuhr er fort. »Aber da lagen nur Tote. Alle waren tot. Wie auf den alten thangkas, wo die Dämonen menschliche Gliedmaßen fressen«, sagte er mit seiner zitternden Stimme und meinte die religiösen Gemälde, die in vielen tibetischen Tempeln hingen. »Die Leute waren in Teile zerrissen. Ein Bein. Eine Hand. Tote Hände.«
    Die anderen musterten ihn voller Entsetzen.
    Der kleine Tibeter schien sie gar nicht wahrzunehmen, als sei er völlig in seiner Todesvision gefangen. Denn genau darum mußte es sich handeln, dachte Shan. Um eine Vision, nicht um eine tatsächliche Erinnerung.
    »Wir gehen nach unten«, sagte Shan leise zu Jowa und Lokesh. »Wir machen ein Feuer. Kommt nach, sobald er dazu in der Lage ist.«
    Doch Bajys war noch nicht fertig.
    »Dann ist mir ihr besonderer Platz im Innern des Berges eingefallen«, sagte er mit schwachem hohlem Klang. »Also bin ich hierher zurückgekommen. Ich habe gespürt, daß sie hier ist, und voller Hoffnung nach ihr gerufen. Aber sie war gar nicht an jenem Ort, sondern bloß hinten in der Eiskammer, und als ich sie endlich fand, konnte sie mir keinen Rat mehr geben.«
    Shan sprang auf, nahm sich die Taschenlampe und lief zurück in die Höhle. Kurz darauf stand er am Eingang der großen Kammer, direkt gegenüber von Laus Grabstätte. Lau hatte einen Platz im Berg, uid zwar nicht die Eiskammer, in der Bajys sie vorfand. Einen besonderen Platz. Shan leuchtete in Bodenhöhe die Wände ab. Rechts war in dem Übergang zwischen Fels und steinigem Lehmboden keine Lücke zu entdecken. Langsam folgte er dem Verlauf der linken Wand, die teilweise hinter herabgestürzten Platten verborgen lag. Sorgfältig untersuchte Shan jeden einzelnen der so entstandenen Hohlräume. Nach fünfzehn Metern blieb er stehen. Es lag ein schwacher Geruch in der Luft, ein kaum merklicher Anflug von Weihrauch und verbrannter Butter, wie in einem Tempel. In der nächsten Einbuchtung zwischen den Felsen deutete nichts auf eine Öffnung hin, aber der Geruch wurde stärker. Wiederum eine Platte weiter entdeckte Shan schließlich einen schmalen Spalt in der Wand, breit genug, um hindurchkriechen zu können. Der Boden davor war durch häufige Abnutzung geglättet. Shan kniete sich hin und kroch voran. Nach drei Metern erreichte er einen Raum, der etwas größer als Laus Grabkammer war.
    Shan hatte sich zuvor schon in Schreinhöhlen aufgehalten, die mitunter seit Jahrhunderten als Verstecke für buddhistische Artefakte dienten, und als der Lichtstrahl seiner Taschenlampe nun auf einen kleinen goldenen Buddha fiel, glaubte er im ersten Moment, erneut eine solche Höhle entdeckt zu haben. Doch das hier war keine religiöse Schatzkammer. Der Buddha stand vor der gegenüberliegenden Wand auf einem kleinen hölzernen Altar, der von Nägeln zusammengehalten wurde. Vor der Statue befanden sich sieben Gefäße, die den sieben Opferschalen der buddhistischen Rituale glichen. Aber die Gefäße paßten nicht zusammen. Einige waren nicht einmal Schalen. Shan sah eine gesprungene Teetasse und einen Blechnapf, wie er ihn aus dem Gefängnis kannte. Und doch enthielten sie die traditionellen buddhistischen Opfergaben. Das erste, zweite und sechste Gefäß

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