Das Auge von Tibet
schlugen. Zweimal stolperte er auf losem Geröll, sprang über Moosflächen, blieb einmal kurz stehen, um sich neu zu orientieren, erblickte Jakli und rannte in ihre Richtung weiter, derweil sie im dichten Gestrüpp verschwand.
Wenig später hallte ein neues Geräusch durch die Stille des Waldes. Jowa hatte die Gestalt gefangen und rief nun nach ihnen.
Keuchend erreichte Shan eine kleine Lichtung, auf der Jowa und Jakli über einer zusammengekauerten dunklen Gestalt standen. Er fragte sich, wo sie wohl die große schwarze chuba gefunden haben mochten, unter der das Wesen lag. Dann begriff er, daß ihre Jagdbeute in Wirklichkeit mit der chuba bekleidet war.
Jakli hob eine Ecke des Schaffellmantels an und enthüllte darunter zwei menschliche Füße, die in hellroten knöchelhohen Schuhen steckten. Sie stieß einen erschrockenen Laut aus, als würde sie die Schuhe wiedererkennen. In ihren Augen blitzte plötzliche Wut auf, und sie fing an, an der chuba zu zerren. Nach einem Moment hatte sie den Mantel seinem Träger entwunden, der sich als kleiner, ängstlich zitternder Mann entpuppte. Mit flammendem Blick hielt Jakli kurz inne, stürzte sich dann auf den Fremden und hieb mit geballten Fäusten auf seinen Rücken ein.
Jowa und Shan sahen sich überrascht an und versuchten, Jakli zu beruhigen. »Verräter!« schrie sie und schlug den Mann immer wieder. »Mörder!»
Shan und der purba mußten sanfte Gewalt anwenden. Sie packten Jakli unter beiden Achseln und zogen sie zurück, woraufhin sie nach dem Mann zu treten begann und ihn an Armen und Beinen traf.
Der Fremde wehrte sich nicht. Er schien die Schläge gar nicht zu registrieren, sondern lag verkrümmt am Boden und gab das gleiche leise Stöhnen von sich, das bereits aus dem Dickicht bei der Höhle an ihre Ohren gedrungen war.
»Aber versteht ihr denn nicht?« schrie Jakli wütend. »Das ist Bajys! Der Kindermörder!»
Shan drehte den Mann auf den Rücken. Das Gesicht, das zu ihm aufblickte, war angstverzerrt. Bajys hatte beide Hände fest verschränkt, als würde er verzweifelt nach Halt suchen, obwohl er doch am Boden lag. Er blinzelte hektisch. Tränen rannen über seine Wangen.
Jakli brüllte ihn auf kasachisch an. Shan verstand kein Wort, aber der scharfe, vorwurfsvolle Tonfall war eindeutig. Der Mann sah sie verwirrt an, blickte dann zu Jowa und meldete sich zu Wort.
»Hilf mir. Hilf mir, Bruder«, sagte er, begleitet von tiefen Schluchzern. »Das Ungeheuer ist entfesselt. Es gibt nur noch Tod. Das Ende der Welt ist gekommen. Ich kann keinen Ausweg finden.«
Irgend etwas stimmte hier nicht. Shan, Jakli und Jowa sahen sich verblüfft an. Bajys sprach tibetisch.
Jakli wandte sich abermals in der Sprache ihres Clans an ihn, nach wie vor wütend, aber nicht mehr ganz so laut. Bajys' Augen blieben flehentlich auf Jowa gerichtet. Jaklis Zorn verwandelte sich in Erstaunen. »Das kann nicht sein«, sagte sie auf mandarin zu Shan. »Er ist Kasache. Er hat noch nie tibetisch gesprochen.« Sie startete einen dritten Versuch in ihrer Muttersprache, doch Bajys warf ihr nur einen kurzen verständnislosen Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf Jowa.
»Sag dieser Frau, daß ich sie nicht verstehe«, bat er mit zitternder Stimme. »Sie verwechselt mich mit jemand anderem. Sag ihr, sie soll ihre Zeit nicht mit Wutausbrüchen verschwenden. Jetzt ist nur noch Zeit für Gebete. Uns bleibt keine andere Möglichkeit mehr.«
Jakli sank in sich zusammen. Ihr Blick schien Shan um eine Erklärung zu bitten, doch er schüttelte nur den Kopf und half dem kleinen Mann auf die Beine. Langsam kehrten sie zu der Höhle zurück. Jowa und Shan stützten Bajys, und Jakli folgte ihnen wie betäubt.
Lokesh wirkte nicht im mindesten überrascht, als sie den kleinen Mann auf die Lichtung führten. Er nahm die Hand des Fremden, führte ihn zu einem Baumstamm, der mitten auf der Freifläche im hellen warmen Sonnenschein lag, und nahm dort mit ihm Platz.
»Bist du etwa ein Priester?« fragte Bajys wimmernd den alten Tibeter.
Lokesh winkte Jowa heran und legte dann seine mala in Bajys' Hände. »Wir wurden beide in gompas ausgebildet«, sagte er und nickte in Richtung Jowa. Doch der purba blieb stehen, als sei er nicht fähig oder gewillt, den Mann zu trösten. »Ich habe sie gesehen«, sagte der alte Tibeter seufzend. »Auch ich habe im Laufe meines Lebens Dämonen gesehen.« Er klang ruhig und friedlich, als würde er beten.
»Das ist unmöglich«, sagte Jakli zu Shan.
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