Das Auge von Tibet
betreffenden Person preiszugeben, nicht einmal Ihnen gegenüber. Und selbst falls sie bereit gewesen wäre, das Risiko einzugehen, wen sollte sie einweihen? Es war zu unvorhersehbar, wo und wann sie eventuell sterben würde.«
»Aber sie wußte es«, sagte Jakli langsam und vertiefte sich in den Anblick des Kreidestücks, als hoffe sie, es würde von selbst beginnen, Antworten zu schreiben. »Sie wußte, daß sie sich in Gefahr befand, nicht wahr? Sie wußte es schon seit Monaten. Ich habe nie darüber nachgedacht.«
»Und sie wußte, daß gewisse Freunde ihrem letzten Wunsch Folge leisten würden, gleichgültig, wann, wie oder wo sie auch sterben mochte«, sagte Shan.
Jakli lächelte bekümmert.
»Es gab noch andere Botschaften«, fügte er hinzu. »Die purbas haben den Lamas von Lau berichtet. Die Maos wußten auch von ihr, oder zumindest jemand aus Laus Umfeld kannte die Maos. Vielleicht der Buddhist, der hier unterrichtet hat.
Aber warum?« Plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Oder sind Sie das gewesen? Sie kennen die purbas und auch die lung ma.«
»Nein. Ich war in der Stadt und habe Hüte angefertigt. Fat Mao hat nach mir geschickt.«
Shan nickte. Fat Mao wußte Bescheid. Denn die lung ma hatte die purbas informiert. »Aber warum?« wiederholte Shan. »Der tibetische Ursprung oder auch der geheime Charakter der Vorgänge in diesem Raum reicht noch nicht dafür aus. Da war noch etwas, etwas dermaßen Wichtiges, so daß die Kunde bis nach Lhadrung gelangt ist.« Weshalb Lhadrung? Warum Gendun und Lokesh? Gendun war nicht bloß in der Region geboren worden, er hatte direkt mit diesem Rätsel zu tun.
»Lau«, sagte Jakli. »Lau war der Grund.«
»Ja, zum Teil schon. Aber das Töten hat nicht mit ihr aufgehört. Da ist noch etwas, ein immer stärker aufziehendes Übel, dem wir Einhalt gebieten müssen. Etwas, das mit den Kindern zu tun hat.«
Jakli beugte sich vor, nahm etwas vom Rand des Kissens und hielt es hoch. Ein kleines Knäuel brauner Fasern. »Wolle«, sagte sie und rieb es zwischen den Fingern. »Voller Lanolin. Ungewaschen. Wie aus der Weste eines Hirten. Oder einer Schaffelldecke.« Sie waren dadurch zwar kaum schlauer geworden, aber sie hatten nun beide das Bild eines Schülers vor Augen, der auf dem Kissen hockte, sich zum Schutz vor der kalten Luft in ein Schaffell wickelte und den Lehrer ansah, der in der braunen Robe vor ihm saß.
»Der Lehrer«, sagte Jakli. »Vielleicht ist der Mörder hinter dem Lehrer her. Von Lau hat er die Aufenthaltsorte der Kinder erfahren. Also nimmt er sich die Schüler vor, um den tibetischen Lehrer zu finden, der diesen Raum benutzt.«
Shan nickte langsam. Suwan, der kleine Moslem, war das erste Opfer geworden. Dann hatte der Mörder Alta getötet, den kasachischen Jungen, der bei Tibetern aufwuchs und die buddhistischen Bräuche lernte. Der Täter hatte Altas Gebetskette gestohlen. Außerdem war da noch Khitai, dessen Namen Lokesh einerseits zu kennen schien und andererseits doch nicht kannte. Shan stand auf und ging wieder an der Wand entlang. Dann blieb er vor dem langen Mantra stehen, das der mysteriöse Lehrer an die Wand geschrieben hatte.
»Es gab noch eine Botschaft«, sagte er. »Allerdings keine besonders geheime. Nach dem Mord im Lager des Roten Steins machten Warnungen die Runde. Und unser Kommen wurde angekündigt. Die Nomaden wußten bereits davon.«
»Von diesem Mord haben ziemlich viele Leute erfahren«, bestätigte Jakli. »Die Clans haben ihre eigenen Mittel und Wege, um Neuigkeiten zu verbreiten. Hirten treffen sich an abgelegenen Orten. Nachrichten werden an Bäumen hinterlassen. Manche der alten Clans schicken Hunde, an deren Halsbändern Briefe hängen. Alle wurden aufgerufen, sich vor dem Mörder in acht zu nehmen.«
»Aber es war mehr als eine allgemeine Warnung.« Shan erzählte ihr, was der Nomade auf der Straße ins Kunlun-Gebirge gesagt hatte. Es hieß, ihr würdet dorthin reisen, um die Kinder zu retten. »Erst ist Lau gestorben, dann Suwan, und jemand kam zu dem Schluß, die Kinder seien gefährdet. Der Lehrer, der diese Kammer benutzt hat. Vielleicht hat er einen der Hirten gewarnt. Das hätte ausgereicht, um die Nachrichtenkette in Gang zu setzen und die dropkas zur Flucht zu verleiten.«
»Viele Leute wußten von Lau und der zheli «, sagte Jakli. »Wenn ein Mutterschaf stirbt, sind die Lämmer stets in Gefahr. Und so mancher hat die zheli schon immer für gefährlich gehalten, weil deswegen in der Regierung kritische
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