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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Vielleicht noch ein oder zwei Tadschiken.«
    »Kasachen wie Bajys?«
    Jakli runzelte lediglich verwirrt die Stirn. Sie ging im Raum umher und berührte mehrere der Gegenstände mit den Fingerspitzen. »Eine geheime Kammer«, sagte sie. »Für heimliche Buddhisten.«
    »Für Kinder«, erwiderte Shan und schaute wieder zu den einfachen Zahlwörtern an der Wand. Oder ein bestimmtes Kind.
    »Tante Lau hat mich die buddhistischen Bräuche gelehrt«, sagte Jakli. »Unauffällig und in Abgeschiedenheit. Aber nicht hier.« Sie wurde fast von ihren Gefühlen übermannt.
    »Ich glaube, das hier war etwas anderes. Wahrscheinlich ist eine weitere Person hergekommen«, sagte Shan. »Nicht Bajys. Womöglich auch nicht nur Lau. Vielleicht ein anderer Lehrer. Ein Buddhist. Ich schätze, deshalb wollte Lau hergebracht werden. Für ein letztes Zusammentreffen.«
    »Aber sie war tot«, wandte Jakli verwirrt ein.
    Shan durchquerte den Raum. Vor dem Buddha blieb er stehen, legte die Handflächen auf den provisorischen Altar und kehrte dann zu der Wand mit der Kreideinschrift zurück. Ihm kamen noch einige andere Worte bekannt vor. Er sah das sechssilbige Mantra Om mani padme hum, die Anrufung des Mitfühlenden Buddhas, und darunter das zwölfsilbige Mantra Om ah hum vajra guru pheme siddhi hum, mit dem der Segen des heiligen Lehrers Guru Rinpoche erbeten wurde. Die ersten Zeilen standen hoch oben an der Wand, einige Zentimeter außerhalb von Shans Reichweite. Er streckte den Arm aus, um sich dessen zu vergewissern, und suchte dann ein weiteres Mal die Kammer ab. »Kein Hocker, keine Bank«, sagte er.
    »Was meinen Sie?« fragte Jakli.
    »Lau war nicht größer als ich. Ich glaube nicht, daß sie dies hier geschrieben hat.«
    Jakli musterte die Zeilen erneut. »Stimmt. Ich kenne ihre Handschrift. Sie bringt mir ... sie hat mir das tibetische Alphabet beigebracht.« Mit großen Augen drehte sie sich wieder zu Shan um, als würde ihr soeben die Bedeutung dieser Erkenntnis bewußt. »Jemand anders war hier«, flüsterte sie. »Jemand anders hat hier gelehrt.«
    Shan nickte. Er hatte zwar nicht den vermißten Lama, doch immerhin dessen Heimstatt gefunden. An der gegenüberliegenden Wand bemerkte er einige einfache, vertraut wirkende Zeichnungen. Jakli wies über seine Schulter auf das erste Bild links, eine senkrechte Linie, auf der eine Art aufgeblähte Ziffer Acht ruhte. »Ein Mönchsstock«, sagte sie.
    »Ein Stab.« Shan nickte. »Der Stab eines Bettelmönchs«, fügte er hinzu und erklärte dann, daß hier die vorgeschriebenen Besitztümer eines geweihten Priesters verzeichnet waren. Er deutete auf ein Bild nach dem anderen. Der Wanderstab, der auf bestimmte Art geschüttelt werden mußte, wenn man um Almosen bat. Eine Wasserkanne mit Sieb, um nicht versehentlich unschuldige Insekten zu ertränken. Eine Almosenschale, eine Decke, drei Roben, zwei Untergewänder, eine Sitzmatte und Sandalen.
    Er starrte auf die Zeichnungen und dann zurück auf die Zahlen an der Wand und das thangka . Die Kammer war einerseits auf die Unterweisung eines Kindes ausgerichtet, andererseits auch wieder nicht. Und sie war zwar tibetisch, aber auf eine sehr altertümliche Weise, als gehöre der Lehrmeister einer der frühesten buddhistischen Sekten an. Shan ging zu dem Strohlager und fand dort eine ordentlich zusammengelegte kastanienbraune Robe. Vorsichtig hob er sie an. Es war die Robe eines Mönchs. Sie war sauber. Er drehte sich zu dem niedrigen Eingangstunnel des Raumes um. Die Robe wies keinerlei Lehmspuren auf. Sie war ausschließlich zur Benutzung im Innern der Kammer gedacht. Neben ihr lag ein Paar großer Sandalen, viel zu groß für Shan, viel zu groß für Lau.
    Jakli wich zurück und setzte sich abermals auf das Kissen des Schülers. Shan kniete sich neben sie. Erst dann wurde ihm klar, daß sie beide das leere Kissen vor dem Altar anstarrten. Der vermißte Lehrer. Sie warteten auf eine Unterweisung, aber da war niemand, der den Platz einnehmen würde.
    »Botschaften«, sagte Shan schließlich und brachte damit seine Überlegungen zum Ausdruck. »Die Spur liegt in all den Botschaften verborgen.« Er spürte Jaklis Blick, wandte seine Augen jedoch nicht von dem Kissen ab. »Laus Wunsch, nach ihrem Tod hergebracht zu werden, war eine Botschaft. Sie wollte dadurch jemanden warnen, von dem niemand sonst wußte. Falls man sie ermordete, sollte der Lehrer aus diesem Raum von der Bedrohung erfahren. Aber sie konnte es nicht riskieren, den Namen der

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