Das Auge von Tibet
war mit Wasser gefüllt, das dritte mit Blumen, das vierte mit Weihrauch, das fünfte mit Butter und das letzte mit duftenden Holzspänen. Um die Schultern des Buddhas lag ein Gebetsschal.
Neben der etwa dreißig Zentimeter hohen Figur stand ein kleiner, teils mit Asche bedeckter Keramikständer, in dem normalerweise Weihrauchstäbchen verbrannt wurden. Zwei Meter vor dem Altar lag ein großes zerlumptes Kissen, anderthalb Meter dahinter ein zweites, kleineres Exemplar. Damit ein Lehrmeister dort mit seinem Schüler Platz nehmen konnte. Neben dem kleineren Kissen stand eine Metallpfanne mit zwei verkohlten Holzscheiten, den Überresten eines Feuers.
In einem Spalt in der Wand steckte ein Balken, an dem ein Stoffgemälde hing, ein tibetisches thangka . Der Stoff war an einigen Stellen bereits durchgescheuert. Shan ging mit der Lampe näher heran und nahm das Bild genauer in Augenschein. Das zentrale Motiv war eine grimmige Frau auf einem Pferderücken, deren Gewand sich im Wind aufzublähen schien. In den Tempeln fanden sich nur selten Abbildungen dieser düsteren Gestalt. Doch während der Winterstürme, wenn die Sträflinge nicht arbeiten konnten und in ihren Baracken bleiben mußten, hatten die alten Lamas von Figuren wie dieser berichtet - und auch von den untergegangenen Klöstern, in denen sie einst verehrt wurden. Es handelte sich um eine Schutzgöttin, die in dieser Form als Magisch Bewaffnete Armee bekannt war.
Hinter Shan flackerte ein weiteres Licht auf. Jakli erschien mit ihrer Fackel und verharrte zunächst schweigend. Die Überraschung war ihr deutlich anzusehen. Dann näherte sie sich staunend und vorsichtig dem kleinen Buddha. Sie ließ den Blick lange durch den ganzen Raum schweifen, bevor sie endlich das Wort ergriff. »Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich Lau in ihrer Hütte besucht habe. Einmal sind wir sogar hier in die große Höhle gestiegen, um uns das Eis anzuschauen. Aber ich hätte nie.« Ihre Stimme erstarb. Sie setzte sich auf das Kissen des Schülers, nahm ein Stück Kreide, das daneben lag, und drehte es zwischen den Fingern, während sie weiterhin die gesamte Kammer betrachtete.
Shan leuchtete in Richtung der Rückwand. Auf einem Strohsack lagen einige gefaltete Decken. Daneben sah er mehrere Keramiktöpfe und einen kleinen Stapel Holzscheite für die Kohlenpfanne. Die Wand selbst war glatt und ebenmäßig. Auf ihr standen mehrere Worte in den anmutig geschwungenen Buchstaben des tibetischen Alphabets. Wenngleich Shan bislang nur wenig über die tibetische Schrift gelernt hatte, so erkannte er doch eine der Reihen simpler Begriffe wieder. Chi, nhi, soom, shi, nga, trook, doon, gyay, gu, ju, las er. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn.
»Als ich noch klein war«, sagte er zu Jakli und stellte überrascht fest, wie tief die geheime Kammer ihn berührte, »hat mein Vater mich während der Reden des Vorsitzenden immer in den Wandschrank unserer Wohnung mitgenommen. Meine Mutter sollte das Radio so laut wie möglich drehen, und er holte geheime Bücher hervor, alte Lehrbücher, mit deren Hilfe er mich dann unterrichtet hat. In Englisch. In amerikanischer und europäischer Geschichte. Und dann die Unabhängigkeitserklärung. Er ließ mich die amerikanische Unabhängigkeitserklärung auswendig lernen.«
»Dafür hätte er im Gefängnis landen können.«
»Das lag bereits hinter ihm. Früher war er Professor für westliche Geschichte gewesen. Ein Stinkender Neunter«, sagte Shan und benannte damit die niederste Kreatur auf der Liste der Neun Schädlichen Elemente, die der Vorsitzende Mao als Feinde des Volkes identifiziert hatte. »Er rangierte sogar noch weiter unten, denn er hatte amerikanische Freunde. Dennoch hat er mich unterrichtet, auch nach seiner Freilassung aus der Haft. Sogar nachdem man unsere Familie zur Umerziehung in ein Landwirtschaftskollektiv geschickt hatte.« Shan seufzte und sah sich ein weiteres Mal in der Kammer um. Lau hatte hier Unterricht erteilt. Bajys wußte davon. Was bedeutete, daß Khitai ebenfalls davon wußte. Vielleicht auch noch andere der Waisen. Es war ein illegaler Ort. Ein buddhistischer Ort.
»Wie viele Tibeter gehören zur zheli ?« fragte er. Er mußte an die Kissen denken. Eines für einen Lehrer, eines für einen Schüler. Immer nur ein Schüler gleichzeitig.
»Einige der Schattenclans sind tibetische dropka -Familien. Aber unter den Kindern? Höchstens zwei oder drei. Die zheli besteht aus Kasachen und Uiguren.
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