Das Auge von Tibet
Stimmen laut wurden.«
»Hat Lau ihren Sitz im Rat wegen der zheli verloren?«
»Das weiß ich nicht, aber ich kann es mir kaum vorstellen. Sie haben Ko heute selbst gehört. Die Leute gewöhnten sich immer mehr daran. Inzwischen wird das zheli -Programm von ihnen sogar unterstützt.«
Die Leute, dachte Shan. Damit waren die Han-Chinesen gemeint, die sich hier im Bezirk Yutian in aller Stille ein kleines Königreich errichteten.
Jakli stand auf und trat zu dem Durchgang. »Hat man Ihren Vater je erwischt?« fragte sie und kniete sich vor den Tunnel. »In seinem geheimen Klassenzimmer.«
Shan hielt inne und betrachtete die Schriftzeichen an der Wand. Was für eine Welt war dies, daß man sich zum Zwecke der Erleuchtung verkriechen mußte? »Nein«, antwortete er ausdruckslos, ohne den Blick von der Wand abzuwenden. »Letzten Endes wäre es vermutlich dazu gekommen, aber die Rotgardisten sind einfach so eines Tages bei uns aufgetaucht, bloß weil er früher ein Professor gewesen war. Sie haben ihn zusammengeschlagen und ihm dabei innere Verletzungen zugefügt. Meine Mutter und ich wurden gepackt und mußten alles mit ansehen. Er starb nicht sofort, aber bei jedem Atemzug bildeten sich auf seinen Lippen kleine Blutblasen. Am nächsten Tag sind die Rotgardisten zurückgekommen und haben alle seine Bücher mitten auf der Straße verbrannt. Er mußte vom Fenster aus zusehen, denn er konnte sich vor Schmerzen kaum bewegen. Voller Entsetzen beobachtete er die Soldaten, und ich beobachtete ihn, und dann hat er einfach langsam aufgehört zu atmen.«
Schweigend stand er da und musterte die geheime Schrift an der Wand.
»Aber die Bücher aus dem Wandschrank«, sagte Jakli sanft. »Hat man die auch gefunden?«
Shan wandte sich mit traurigem Lächeln zu ihr um und schüttelte langsam den Kopf. »Später bin ich einfach allein hineingegangen, nur mit einer Kerze.«
Als Jakli durch den Tunnel nach draußen verschwand, überlegte Shan kurz, nahm dann das Stück Kreide, das sie auf dem Kissen zurückgelassen hatte, und hinterließ in kleinen chinesischen Ideogrammen eine Botschaft neben dem Eingang. Das einzig Konstante ist die Veränderung. Die Nachricht war für Gendun bestimmt, der ein gutes Gespür für geheime Schätze besaß. Beim Anblick der Worte wurde Shan plötzlich etwas klar. Womöglich kannte Gendun diesen Raum bereits. Die Einsiedelei in Lhadrung wurde von heimlichen Lehrern bewohnt. Die Kammer hier diente einem heimlichen Lehrer als Unterkunft, dessen Identität niemandem bekannt war.
Aber Gendun hatte Shan gesagt, Lau sei getötet worden und ein Lama würde vermißt. Die purbas hatten lediglich von Laus Tod gewußt. Schon allein der Weg, den die Kunde genommen hatte, stellte eine eigene Botschaft dar, nämlich daß der Lama, der diesen Raum benutzte, verschwunden war und nicht mehr direkt mit Lhadrung kommunizieren konnte. Aus dieser Tatsache hatte Gendun selbständig den zweiten Teil des Geheimnisses abgeleitet: Der Lama befand sich in fremder Gewalt.
Jowa und Lokesh saßen weiterhin bei Bajys, der sich vor und zurück wiegte und mit den beiden Tibetern Mantras rezitierte. Wortlos gingen Shan und Jakli an den anderen vorbei über die Lichtung. Unten an der Hütte entzündeten sie in einem Steinkreis ein Feuer.
Jakli holte unter der Veranda einen verbeulten Topf hervor und setzte Tee auf. »Das mit Bajys wird niemand glauben«, sagte sie. »Ich weiß nicht einmal, ob ich es selbst glaube. Es ergibt keinen Sinn.«
»Sie meinen, man wird ihn trotzdem noch als Mörder jagen?«
Sie nickte. »Vielleicht ist er das ja auch. Ich kenne Leute, die eine Art Besessenheit durchaus für möglich halten«, sagte sie im Hinblick auf Maliks Worte. »Eventuell hat er den Jungen unter dem Einfluß einer fremden Macht ermordet, die danach wieder von ihm gewichen ist.«
»Und diese Macht hat ihn auch Tibetisch gelehrt?« fragte Shan. »Ihn dazu veranlaßt, buddhistische Gebete aufzusagen?«
»Er könnte dennoch der Mörder sein.«
»Der Mann, den wir hier oben angetroffen haben, ist kein Mörder.«
»Aber er hat uns belogen. Er ist kein Kasache.«
»Hat er das wirklich? Oder hat er einfach nur nicht alles von sich preisgegeben? Sie haben es vorhin selbst gesagt. Manche Geheimnisse sind zu gefährlich, um gelüftet zu werden«, rief Shan ihr ins Gedächtnis.
Sie schwieg.
»Nein, ich bin mir sicher, er hat weder den Jungen noch Tante Lau ermordet«, fügte Shan hinzu.
»Glauben Sie, es handelt sich in beiden Fällen um
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