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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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denselben Täter?« fragte Jakli. »Bajys muß unbedingt den Mund aufmachen und uns erzählen, was geschehen ist.«
    »Vielleicht weiß er das gar nicht«, entgegnete Shan. »Unter Umständen hat der Anblick des toten Jungen diese Veränderung bei ihm bewirkt. Er hatte eine Schale um sein tibetisches Ich errichtet. Eine kasachische Schale. Und als er den toten Jungen sah, zerbrach die Schale in tausend Stücke und ging für immer verloren.«
    »Ein alter Schamane hat mir einst erzählt, die Nähe des Todes könne Seelen verwirren«, sagte Jakli. »Sie geraten durcheinander, werden herausgerissen und kehren dann in den falschen Körper zurück.«
    »Und welche Seele hat er jetzt? Die Seele des Mörders?«
    »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß er nicht Bajys ist, aber gleichwohl im Körper von Bajys steckt.« Sie seufzte und sah Shan in die Augen. »Und man wird ihn trotzdem töten. Sie kennen die alten Clans und deren eigene Form der Gerechtigkeit nicht. Die Behörden werden nicht eingreifen, auch wenn jemand sie darum bitten sollte. Wenn die Clans von Bajys' Schuld überzeugt sind, werden sie ihn bestrafen. Als ich noch klein war, hat man in der Nähe unseres Lagers zwei Pferdediebe ergriffen und an einem Baum aufgeknüpft. Ich wollte nach den Lämmern auf der Weide sehen und bin zufällig dort vorbeigekommen. Die Gesichter der beiden waren dunkelrot und aufgequollen.«
    »Hat Lau tibetische Freunde gehabt?« fragte Shan.
    »Nein«, erwiderte Jakli. »Unter all ihren Bekannten könnte ich selbst noch am ehesten als Tibeterin gelten. Ansonsten habe ich in all den Jahren nie einen Tibeter bei ihr gesehen, außer natürlich die dropkas , die sich um die Waisen kümmern. Allerdings haben sie sich meistens im Hintergrund gehalten, nur schnell die Kinder gebracht und sich dann wieder versteckt, bis Laus Unterricht beendet war.«
    »Sie war demnach eine Kasachin mit chinesischen und uigurischen Freunden«, faßte Shan skeptisch zusammen. »Aber tibetische Freunde hatte sie nicht. Obwohl im Vorgebirge des Kunlun tibetische Nomaden unterwegs sind.«
    »Tibeter erhalten meistens keine Papiere für Xinjiang. Nur sehr wenige wurden als Einheimische eingestuft. Im allgemeinen behandelt man sie.« Sie zuckte die Achseln, als sei ihr die Feststellung peinlich, und widmete sich dem Tee.
    »Schlecht«, beendete Shan den Satz für sie.
    Jakli nickte. »Wenn die Anklägerin oder ein Offizier der Öffentlichen Sicherheit eine Rede hält, werden die Tibeter stets als Angehörige jener halsstarrigen Minderheit bezeichnet, die angeblich für den mangelnden Fortschritt des Landes verantwortlich ist. In Yutian hat mir ein Freund etwas in seinem Computer gezeigt, das er zuvor über die Telefonleitung bekommen hatte. Es war ein kurzer Film von irgendwo außerhalb Chinas, in dem die Verbrennung einer chinesischen Flagge gezeigt wurde. Ein tibetisches Kind erschien und zündete die Fahne an. Sobald sie sich in Asche verwandelte hatte, ging der Film von vorn los. Immer wieder.«
    »Das heißt also, tibetische Freunde hätten Lau politisch in Verruf gebracht.«
    Jakli nickte erneut.
    »Warum hat sie dann Tibetisch gelernt?«
    »Keine Ahnung. Sie kannte viele Sprachen. Tadschikisch. Das Mandarin des Volkes. Das Mandarin der Partei. Englisch.«
    »Englisch? Wieso Englisch?«
    Jakli blickte auf, als würde die Frage sie überraschen. »Das hier ist China«, sagte sie und lächelte ein wenig tadelnd. »Hier sitzen Leute in Wandschränken und bringen sich Dinge bei. Lau hat die Menschen alles Notwendige gelehrt. Dabei hat sie manchmal über Buddha gesprochen, manchmal aber auch über Mohammed. Falls unter den Kindern der zheli Han-Chinesen gewesen wären, hätte sie ihnen von Konfuzius und Laotse erzählt. Genau das war ihre Art.«
    »Nein. In der Höhle war es anders.«
    »Das glaube ich nicht. Wie kommen Sie auf die Idee.?«
    »Weil Lau Sie nie dorthin mitgenommen hat«, fiel Shan ihr ins Wort. Jakli stöhnte kaum hörbar auf. Als sie die geheime Kammer betreten und sich verblüfft auf das Kissen des Schülers gesetzt hatte, waren Shan in ihrem Gesicht viele Empfindungen gleichzeitig aufgefallen. Erstaunen. Verwirrung. Ehrfurcht. Traurigkeit. Aber auch Schmerz. »Sie waren Laus Freundin und Schülerin und haben von ihr viel über Tibet und den Buddhismus gelernt. Doch sogar vor Ihnen hat sie diesen Ort geheimgehalten.«
    »Aber Sie haben doch gesagt, da sei noch jemand gewesen.
    Ein weiterer Lehrer.«
    Shan nickte. »Ein tibetischer Freund, der

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