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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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sprach langsam und vorsichtig, als empfinde sie inzwischen keinen Zorn mehr, sondern Angst. »Bist du bei den Jungen gewesen? Du mußt es uns erzählen. Wußtest du, daß es nicht Khitai war?«
    »Wo würde er hingehen?« warf Lokesh ein. »Wohin würde Khitai flüchten?« Bajys schaute von links nach rechts, blickte erst Jakli und dann Lokesh an. »Ich habe den Schuß gehört. Dann sah ich ihn mit seiner roten Mütze dort liegen und bin weggerannt. Er ist tot.« Der kleine Tibeter blickte zur Tür der Hütte, als sähe er dort jemanden, den die anderen nicht wahrnehmen konnten. »Das war derjenige, den ich geliebt habe«, sagte er mit hohler Stimme. »Das war derjenige, den ich beschützen sollte. Jetzt wird er wieder tot sein. Aber das war derjenige, den ich gekannt habe.«
    Shan ließ ihn nicht aus den Augen und versuchte, den Sinn dieser merkwürdigen Worte zu begreifen. »Warum sind Sie hergekommen?« fragte er. »Als der Junge starb, wollten Sie sich zu Lau flüchten. Wieso?«
    Bajys sah sich sorgfältig um. Erst dann sprach er weiter. »Manchmal ist es plötzlich da, wie eine dunkle Wolke. Und die Menschen sterben einfach. Man kann es nicht aufhalten.« Aus seinem Schoß ertönte ein leises Klappern. Seine Hand mit der Gebetskette zitterte.
    »Wangtu weiß es«, sagte er auf einmal zaghaft. »Wangtu hat es mir erzählt. Jemand ist hinter Lau her, hat er gesagt.«
    Jakli runzelte die Stirn. »Wangtu weiß gar nichts«, entgegnete sie verärgert. »Er redet bloß.«
    Bajys sah sie an und schüttelte den Kopf. »Wangtu weiß es«, wiederholte er düster. »Das Ende der Welt ist gekommen.« Er schien vor ihren Augen zu schrumpfen, wurde immer kleiner, fiel in sich zusammen. Shan hatte so etwas zuvor schon gesehen, auch bei tapferen Männern, und er erschauderte bei dem Gedanken an die schrecklichen Ereignisse, die dafür verantwortlich waren. Bajys hatte den toten Jungen gefunden und nach dieser entsetzlichen Erfahrung Trost bei der weisen und sanften Lau suchen wollen. Statt dessen war er an einen grauenvollen Ort des Todes gelangt, an dem menschliche Gliedmaßen verstreut lagen.
    »Kennen Sie diesen Wangtu?« fragte Shan Jakli.
    Sie runzelte abermals die Stirn. »Ich habe Ihnen von ihm erzählt. Laus Fahrer. Ich habe ihn früher gekannt.«
    »Der Mann, der nun im Lager Volksruhm sitzt?«
    »Aber nicht lange. Die Anklägerin wird ihn verhören, er wird ihr irgendeine unwichtige Information anbieten, und dann kommt er wieder frei.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Aber verstehen Sie denn nicht? Das ist Xus Masche. Sie läßt so viele wie möglich verhaften und dann eine Zeitlang schwitzen. Bei Bedarf läßt sich für jeden irgendein Vergehen finden.«
    »Aber wie lange wird es dauern?« fragte Shan. »Wann ist er wieder frei, so daß ich mit ihm sprechen kann?« Er begriff, daß die Anklägerin ihn womöglich aller Zeugen beraubt hatte, die etwas Licht auf das Geheimnis von Laus Tod werfen konnten.
    »Ein oder zwei Wochen.«
    »Das ist zu lange.«
    Sie sah ihn an und seufzte. »Wollen Sie ins Lager Volksruhm? Dann gehen Sie am besten in die Stadt und verbrennen dort auf dem Marktplatz ein Exemplar der Reden des Vorsitzenden.«
    »Das wäre eine Reise ohne Wiederkehr.«
    »Wenn Sie ihn sprechen wollen, gibt es keine andere Möglichkeit, als ins Gefängnis zu gehen.«
    Shan begann unwillkürlich zu zittern. Seine rechte Hand legte sich auf seinen linken Unterarm und umschloß die Nummer, die er dort trug, jene Nummer, die seine Wärter ihm in Tibet auf die Haut tätowiert hatten. Das Thema Gefängnis, auch wenn es sich nur um ein schwächer gesichertes lao jiao Lager handelte, schien allen Anwesenden ein Frösteln zu verursachen. Shan rückte näher ans Feuer.
    Über ihnen ertönte der gellende Schrei eines Falken. Der Wind des späten Nachmittags ließ rote und goldene Blätter über den Boden tanzen.
    »Ich wäre eigentlich gar nicht an der Reihe gewesen«, sagte Bajys auf einmal leise. »Der älteste Sohn geht, so war es von jeher üblich.«
    Shan und Lokesh sahen sich an. Über viele Jahrhunderte hatte in Tibet die Tradition geherrscht, daß der älteste Sohn einer jeden Familie ins Kloster geschickt und zum Mönch ausgebildet wurde. Wie so vielem anderem, hatte Peking auch diesem überlieferten Brauch ein rücksichtsloses Ende bereitet.
    »Ich war bloß ein dropka . Ich wollte nur bei den Herden sein. Aber nach einem Monat im Kloster kam mein Bruder zu Besuch«, erzählte Bajys, dessen schwache Stimme etwas mehr an

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