Das Auge von Tibet
Sicherheit zu gewinnen schien. »Er bereitete sich darauf vor, seine sechsjährigen Studien anzutreten. Wir feierten Losar, das Neujahrsfest, und wollten zum Abschied ein letztes Mal im Schnee spielen. An einem der Berghänge gab es einen Bach, der sich im Winter in eine lange Eisbahn verwandelte. Wir setzten uns dann immer auf Schaffelle und rutschten hundert oder zweihundert Meter nach unten, bis auf das flache Eis, wo der Bach in den Fluß mündete. Mein Bruder schlitterte als erster herunter, während ich ihm lachend dabei zusah. Aber als er unten ankam, tat sich im Eis plötzlich ein dunkles Loch auf. Er rutschte hinein und war verschwunden. Wir haben ihn nie wiedergesehen. Es gab keinen verzweifelten Kampf. Keine Leiche. Kaum einen Spritzer Wasser. Zuerst dachte ich, es sei ein gelungener Scherz, und lachte. Doch es war kein Scherz. Er war weg, hatte eben noch mit mir zusammen gelacht und wurde im nächsten Moment vom Erdboden verschluckt. Als hätte er nie existiert. Noch bevor die Todesriten der Bardo-Zeremonie beendet waren, rasierte man mir den Kopf und schickte mich an seiner Stelle ins gompa .«
Mit schmerzverzerrter Miene sah Bajys jedem der Anwesenden ins Gesicht, als hoffe er inständig, von irgendwem endlich eine Erklärung zu erhalten. Doch niemand sagte etwas. Sie saßen alle schweigend da und starrten in die Flammen.
Shan musterte seine Begleiter. Er erkannte, auch ohne zu fragen, daß sie alle zu dem gleichen Schluß gelangt waren. Es galt, einen Mörder aufzuhalten, Khitai und den Rest der zheli zu retten und den vermißten Lama zu finden. Doch zuvor mußten sie Bajys in Sicherheit bringen. Lokesh würde auf die Seele des Tibeters achtgeben können, und Jowa vermochte den Leib des Mannes zu schützen. Die drei würden sich tief in die Berge zurückziehen. Shan hingegen würde bleiben, denn er mußte zurück ins Gefängnis.
Kapitel 5
Vor ihm war ein Berg und auf dem Berg ein Eichhörnchen und auf dem Eichhörnchen ein Floh und an dem Floh ein Auge, das gen Himmel starrte, weil der Floh sich Flügel wünschte. Shans Blick richtete sich auf den fernen, hohen Horizont. Der Berg war tatsächlich da, doch der Rest existierte nur in Shans Vorstellung. Auf diese Weise lenkte er sich ab, während der Lastwagen das Ende eines langen flachen Tals in den Nordhängen des Kunlun ansteuerte. Shan senkte den Kopf und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf den Boden des Führerhauses, weil er es nicht wagte, einen Blick auf das riesige, mit Stacheldraht umzäunte Lager zu werfen, dem sie sich näherten.
Er mußte unbedingt mit Laus Fahrer Wangtu und möglichst vielen jener Leute sprechen, die kürzlich auf Xus Anweisung verhaftet worden waren. Doch als sie in das öde Tal einbogen, in dem man das Lager Volksruhm errichtet hatte, war in Shans Eingeweiden wieder das schwarze formlose Ding zum Leben erwacht, das er der Zeit im Gulag verdankte. Er widerstand dem plötzlichen Impuls, einfach aus dem Wagen zu springen. Nein, es ist bloß eine Umerziehungseinrichtung, rief er sich ins Gedächtnis, und keines dieser Straflager, in denen Außenseiter wie Shan durch Elektroschocks gefügig gemacht und an Leib und Seele vernichtet wurden. Doch als Shan nach unten sah, bemerkte er, daß seine Hände zitterten. Er legte die rechte Hand auf den linken Unterarm und drückte fest zu, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Dann erst registrierte er, welche Stelle seines Körpers er umklammert hielt, und drückte daraufhin nur um so fester zu.
»Haben Sie Schmerzen?« fragte Jakli und bedeutete Fat Mao mit einer Handbewegung, das Tempo des Wagens zu verringern.
Nein, war Shan versucht zu antworten, ich habe keine Schmerzen, sondern Angst. Falls man ihn erwischte und die eintätowierte Nummer überprüfte, würde ihn das als geflohenen Strafgefangenen enttarnen. Was hatte Jowa zu Gendun gesagt? Man würde Shan einfach hinter die nächstbeste Ecke zerren und ihn erschießen. Er fühlte sich, als könnte sein Körper jeden Moment ein Eigenleben entwickeln und sich aus dem Lastwagen werfen. Doch Shan starrte nur zu Boden. Dort lag ein Kiesel, und auf dem Kiesel wuchs eine Flechte, und auf der Flechte lebte eine Milbe.
Von Laus Hütte war Jakli zu einer kleinen Ansammlung windschiefer Bauten am Rand der Fernstraße nach Kashi gefahren. Vor einem der Schuppen ragten einige Zapfsäulen auf, und daneben hatte sich ein etwas größeres Werkstattgebäude erhoben, das von Fahrzeugen in unterschiedlichen Stadien des Verfalls
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