Das Auge von Tibet
umgeben war. Auf der anderen Straßenseite hatte Shan ein quadratisches Häuschen aus gelb gestrichenen, groben Steinen gesehen, das ein einzelnes großes Fenster sowie ein handgeschriebenes Schild besaß, auf dem lediglich Tee stand. Jakli war zu einer Telefonzelle neben den Zapfsäulen gegangen und hatte einige Anrufe erledigt. Eine Stunde später war ein Lieferwagen eingetroffen, der zum Lager Volksruhm unterwegs war. Am Steuer hatte Fat Mao gesessen und neben ihm zwei Männer mit buschigen Schnurrbärten, die Shan als Akzus Söhne wiedererkannt hatte. Um Platz für Jakli und Shan zu schaffen, waren die Kasachen ausgestiegen und auf die offene Ladefläche des großen Lastwagens geklettert, auf der sich zahlreiche Leinensäcke auftürmten. Ein vierter Mann war dann von dort abgestiegen. Der mürrisch wirkende, breitschultrige Fremde hatte einen eiskalten Blick und eine vernarbte Furche im Nacken gehabt, die nur von einer Schußverletzung stammen konnte. Jakli hatte ihn als Mao den Ochsen vorgestellt. Wortlos hatte er sich ans Steuer des Schildkrötenlasters gesetzt und war mit Jowa, Lokesh und Bajys davongefahren.
Nun legte Jakli schweigend eine Hand auf Shans weiß hervortretende Knöchel und zog sie mit sanfter Gewalt von seinem Unterarm weg. Dann schob sie den Ärmel seines Hemds hoch und strich mit den Fingerspitzen über die eintätowierten Ziffern. »Andere Freunde von mir haben ebenfalls das Gulag überlebt«, sagte sie seufzend. »Aber denen sieht man das auch an. In Ihrer Miene habe ich bis jetzt nichts davon bemerkt. Sie haben sich gut erholt.«
»Niemand kann sich je davon erholen«, flüsterte Shan und starrte die Nummer an. Vier Wachen hatten sich damals auf ihn gestürzt, weil er gegen die Tätowiernadel aufbegehrte. Am Ende hatten sie die Geduld verloren und ihm so lange Mund und Nase zugehalten, bis er ohnmächtig geworden war. Als er aufwachte, war die Prozedur bereits vorbei gewesen. Ein Politoffizier hatte über ihm gestanden und hämisch gegrinst. »Trage sie mit Stolz«, hatte der Mann ihn angeherrscht. »Sie beweist, daß der Staat sich noch immer um dich sorgt.«
Jakli sagte etwas in ihrem Heimatdialekt, und Fat Mao griff unter den Sitz, um ihr einen kleinen Verbandkasten zu reichen. Sie holte daraus ein großes Heftpflaster hervor, zog die Folie ab und klebte es über die Tätowierung. »So«, sagte sie und zog den Ärmel wieder herunter. »Nun sind Sie wie einer von uns.«
Das kalte Gefühl wurde seltsamerweise etwas schwächer. Shan ließ sich Jaklis Worte noch einmal durch den Kopf gehen. Andere Freunde, hatte sie gesagt. Als ob Shan auch einer ihrer Freunde wäre.
Der einsame Wachposten in der kleinen Hütte neben der Zufahrt erkannte den Lastwagen und öffnete das Tor, bevor sie den äußeren Drahtverhau erreicht hatten. Sie fuhren ohne Halt hindurch, verlangsamten jedoch die Geschwindigkeit, so daß Fat Mao dem Soldaten einen Apfel zuwerfen konnte. Zwischen zwei Pfosten hing ein verblichenes und ausgefranstes Banner. Befreit euch vom Feudalismus.
Einen Moment lang nahm Shan die Einzelheiten mit dem geschulten Blick eines Häftlings in sich auf. Das Tor befand sich in keinem guten Zustand; die Scharniere hatten sich gelockert und außerdem Rost angesetzt. Ein Großteil des Drahtgeflechts sowohl des Tors als auch des Zauns schien ebenfalls verrostet zu sein. Der Wachposten war übergewichtig und nicht mehr der Jüngste, keinesfalls einer der trainierten Soldaten der Volksbefreiungsarmee oder der Öffentlichen Sicherheit, denen die Kontrolle der Zwangsarbeitslager oblag. Sein Karabiner wirkte noch älter als er selbst.
Da Wangtu nur verhört werden sollte, würde man ihm Kalfaktordienste zuweisen, erklärte Fat Mao. Im einzelnen bedeutete dies, daß er vorübergehend von der üblichen Routine freigestellt wurde, um beim Ausladen der wöchentlichen Lebensmittellieferung behilflich zu sein. Jakli wies auf das Lagerhaus, ein großes rechteckiges Gebäude zwischen dem äußeren Zaun und der inneren Einfriedung, hinter welcher die Häftlingsbaracken standen. Langsam fuhren sie darauf zu, vorbei an dem L-förmigen Haus, in dem die Verwaltungsbüros der Umerziehungseinrichtung Ruhm des Volkes untergebracht waren. Auf den Stufen des Bürogebäudes standen einige Männer in braunen Hemden und Hosen und blickten dem Lastwagen entgegen. Shan kannte die Männer nicht, aber die braune Kleidung hatte er zuvor schon gesehen, in den Bergen, kurz vor Genduns Verschwinden.
»Sicherheitsleute der
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