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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Brigade«, erklärte Jakli. »Hier sind nach wie vor ein paar Soldaten stationiert, aber die Brigade hat letztes Jahr die organisatorische Leitung des Lagers übernommen.«
    Hinter dem Lagerhaus erblickte Shan einen riesigen Haufen Kohlen und daneben ein kleineres Heizungsgebäude, an dem vor allem der fünfzehn Meter hohe Schornstein auffiel. Er wußte, daß manche der Arbeitslager in Xinjiang riesige Bergwerke darstellten, in denen die Männer und Frauen mit Hammer und Meißel unter unmenschlichen Bedingungen Kohle abbauten, die dann an andere Hafteinrichtungen geliefert oder in die östlichen Städte gebracht wurde.
    Jenseits des Heizungsgebäudes lag ein Friedhof.
    Nachdem er ausgestiegen war, betrachtete Shan die langen Reihen sonnengebleichter Bretter, die als Markierungen der einzelnen Gräber dienten, und wurde sich auf einmal der kuriosen Tatsache bewußt, daß er schon seit Jahren keinen Friedhof mehr gesehen hatte. In Peking war Land zu knapp, um es an Tote zu verschwenden. Nur die wichtigsten Parteifunktionäre oder überaus wohlhabende Bürger erhielten eine dauerhafte Grabstätte. Alle anderen konnten sich das Recht erkaufen, ein paar Jahre unter der Erde zu bleiben, damit die Familie Gelegenheit hatte, sie hin und wieder zu besuchen. Sobald der Vertrag auslief, wurden die Leichen wieder ausgegraben und verbrannt. Die tibetischen Buddhisten führten noch immer Himmelbegräbnisse durch und überließen die Toten den Geiern, was den schnellsten Weg darstellte, einen Körper erneut in den Lebenskreislauf einzugliedern.
    Überall auf dem Gelände ragten Pfosten auf, an denen Lautsprecher hingen. Plötzlich erschallte daraus eine barsche Stimme und verkündete auf mandarin, daß in zehn Minuten die Sitzungen zu Ehren der Parteihelden beginnen würden. Shan beobachtete, wie der innerste Bereich des Lagers zum Leben erwachte. Manche der Unterkünfte dort bestanden aus Zementblöcken mit Blechdächern, andere aus Sperrholz, dessen Schichten abbröckelten. Die Baracken nahmen drei der jeweils etwa fünfhundert Meter messenden Seiten eines Qiadrats ein. Die offene Seite dieser riesigen U-Form zeigte in Richtung des Verwaltungsgebäudes, vor dem der Lastwagen stand. An einem zweiten, inneren Tor, das zu den Unterkünften führte, konnte man zwei weitere Wachposten sehen, von denen einer wie schlafend an einem Pfahl lehnte. Die Fenster eines der Gebäude, das dem inneren Tor am nächsten lag, wurden durch ein stabiles Drahtgeflecht geschützt. Auf der Bank neben der Tür saßen vier Wachen. Shan prägte sich alles genau ein. Er mußte schlagartig daran denken, daß womöglich auch Gendun dort gefangengehalten wurde.
    Hinter den Baracken, am Ende des inneren Bereichs, konnte Shan Äcker erkennen, die mit Ausnahme eines großen Kohlfelds allesamt bereits abgeerntet waren. Im Süden und Osten erhoben sich jenseits des Zauns braune grasbedeckte Hügel, auf denen vereinzelte Schafe weideten.
    Voll schmerzlicher Erinnerung verfolgte Shan, wie Hunderte von graugekleideten Häftlingen zum befohlenen politischen Unterricht eilten. Man durfte sich auf keinen Fall verspäten. Zwar wurde ein lao jiao Insasse nicht so streng behandelt wie ein Sträfling des Gulags, aber es herrschte dennoch strikte Disziplin. Shan wandte sich wieder zu dem Friedhof um und musterte die langen Reihen der Grabstätten. Lao jiao Gefangene verbüßten zumeist nur eine kurze Strafe von ein paar Monaten oder höchstens einem Jahr. Eigentlich dürfte es während dieser Zeit nur wenige Todesfälle geben.
    »Manchmal brechen ansteckende Krankheiten aus«, sagte Jakli, die seinen Blick bemerkt hatte. »Und vor zwei Jahren gab es eine Dürre. Die Menschen in den Städten wurden bevorzugt mit Lebensmitteln versorgt. Danach kamen die Landwirtschaftsbetriebe und die Viehbestände. Dann erst die Häftlinge. Die älteren Gefangenen sind an Unterernährung gestorben. Zuerst haben sie ihre Gürtel und Schuhe gegessen, dann Käfer und Würmer. Aber gestorben sind sie trotzdem.« Sie seufzte. »Außerdem schickt die Brigade lao gai Sträflinge her, die zu krank zum Arbeiten sind, damit sie hier sterben. Es wird nicht gern gesehen, daß unproduktive Arbeiter einfach so in den Kohlengruben herumliegen. Und bisweilen bringen auch die Einsatzkommandos ganz besondere Gefangene her, weil dieser Ort so abgelegen und geheim ist.«
    Der Lastwagen setzte zurück und hielt vor der Laderampe eines großen Holzgebäudes. Aus dem Verwaltungskomplex tauchte eine Gestalt in einem

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