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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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weißen Hemd und Krawatte auf und winkte mit einem Klemmbrett. Jakli bedeutete Shan, er solle auf die Ladefläche steigen.
    Sie hatten sich zuvor darauf geeinigt, daß Shan die Säcke von ganz oben an die anderen weiterreichen würde, weil diese Position von den Wachen am schlechtesten eingesehen werden konnte. Jakli wollte unterdessen versuchen, Wangtu beiseite zu nehmen. EIN PRODUKT DER PROVINZ GUANGDONG, las Shan auf den Leinensäcken, als er hinaufkletterte. Das war ein weiterer von Pekings grausamen Scherzen. Genau wie die vielen anderen Minderheiten der westlichen Regionen bevorzugten auch die Tibeter und Kasachen traditionell Gerste und Weizen. Doch auf Pekings Anweisung wurde ein Großteil der einheimischen Getreideproduktion nach Osten verfrachtet und dort an das Vieh verfüttert, während man statt dessen Reis importierte, das Hauptnahrungsmittel der Han-Chinesen. Zudem ließ die Zentralregierung unter der Bevölkerung erläuternde Broschüren verteilen, in denen die gesundheitsfördernde Wirkung von Reis gepriesen wurde. In manchen davon stand sogar zu lesen, daß vor allem der Reis ausschlaggebend für die überlegene Intelligenz der Han-Chinesen sei.
    Von seinem Platz oben auf den Reissäcken ließ Shan erneut den Blick über das Lager schweifen. Er konnte den Friedhof nun deutlich erkennen, einschließlich einiger frischer Erdhügel im hinteren Bereich, und überschlug eilig, daß es sich um mindestens zweihundert markierte Grabstellen handeln mußte. Zwischen dem Heizungsgebäude und dem Friedhof kam ein neues Bauwerk in Sicht, vielleicht ein Geräteschuppen. An der Seite des Schuppens fiel Shan eine Bewegung auf. Als er genauer hinsah, kam eine Gestalt um die Ecke des Gebäudes und ließ ihn erstarren. Es war ein Soldat, aber keiner der trägen, schlecht ausgerüsteten Wachposten, wie sie am Zaun standen. Sogar aus mehr als fünfzig Metern Entfernung erkannte Shan die Uniform und den typisch stolzierenden Gang wieder. Dieser Mann war Angehöriger der Öffentlichen Sicherheit, ein Kriecher, und die Waffe in seiner Armbeuge war kein veraltetes Gewehr, sondern eine kompakte Maschinenpistole.
    »Haben Sie Schmerzen?« fragte Jakli zum zweitenmal an jenem Tag, und erst da wurde Shan klar, daß er sich flach auf die Säcke geworfen hatte. Die Reflexe eines Häftlings ließen sich nur schwer wieder ablegen. Er stand auf und schüttelte den Kopf. »Wir müssen weiter«, erklärte sie und streckte ihm den Arm entgegen, um ihm beim Absteigen behilflich zu sein.
    Als er wieder im Führerhaus des Lastwagens saß, verschränkte Shan die Hände zu einem mudra , bei dem die Mittelfinger nach oben wiesen. Diamant des Verstands. Klarheit der Entschlußkraft. Denk an dein Ziel. Bleibe achtsam. Als Shan wieder aufblickte, rollte der Wagen durch das innere Tor.
    »Ich dachte, wir würden wieder wegfahren!« rief er erschrocken.
    »Die Rampe ist heute geschlossen«, sagte Jakli und schaute sich mit verwirrter Miene zu dem Lagerhaus um. »Wir sollen die eine Hälfte direkt bei der Küche abladen und den Rest morgen früh zur Rampe bringen. Aber wir werden Wangtu schon noch finden. Wenn nicht jetzt, dann später.«
    Um die Suche nach Laus Fahrer machte Shan sich in diesem Moment allerdings kaum noch Gedanken. Seine Zunge war dermaßen trocken, daß er kein Wort über die Lippen bekam, sonst hätte er lautstark protestiert. Letzten Endes wurde er also doch wieder ins Gefängnis gebracht. War dies alles bloß eine schaurige List seiner früheren Kerkermeister gewesen, um ihn für ein paar weitere Jahre hinter Stacheldraht einzusperren?
    Jakli legte ihm abermals eine Hand auf den Arm. »Was sollten wir machen? Eine Weigerung hätte nur zusätzlichen Verdacht, erregt. Es wird Ihnen nichts geschehen, das verspreche ich.«
    Er merkte, wie er immer tiefer von seinem Sitz herabrutschte, als würde sein Körper sich unbedingt verstecken wollen. Man brachte ihn zurück ins Gefängnis, und diesmal würden sich keine buddhistischen Mönche um seine Heilung kümmern, wenn die Wärter mit ihm fertig waren.
    Jakli drückte seinen Arm und holte Shan dadurch in die Realität zurück. »Man wird nur dann zum Gefangenen, wenn man sich wie ein Gefangener verhält«, stellte sie ruhig und sachlich fest.
    Die Weisheit dieser Bemerkung traf Shan wie eine frische kühle Brise und beschämte ihn. Langsam richtete er sich wieder auf und sprach kein weiteres Wort, bis sie sich dem langgestreckten Gebäude im hinteren Bereich des Geländes näherten,

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