Das Auge von Tibet
schaute zum Lastwagen, der unterdessen zügig entladen wurde. »Schnell, Wangtu. Wieso hast du Bajys gewarnt?«
Der Kasache sah in die Ferne, als versuche er, sich zu erinnern. »Genaugenommen habe ich das gar nicht. Ich habe nur gesagt, Lau sei mit dem blauen Wolf unterwegs.« Bei diesen Worten richtete sein Blick sich wieder auf Jakli.
Ihre Züge verhärteten sich. »Ein jinni«, erklärte sie für Shan, ohne Wangtu aus den Augen zu lassen. »Ein blauer Wolf ist ein sehr übler jinni. Ein böser Geist.«
»Für Kasachen«, fügte Wangtu hinzu. »Jedenfalls für alte Kasachen.«
»Nun sag schon«, forderte Jakli ihn ungeduldig auf. »Warum warst du der Ansicht, ein blauer Wolf sei hinter ihr her?«
Wangtu schien ihr gar nicht zuzuhören. Er blickte über ihre Schulter. »Ich könnte dir das da besorgen«, sagte er und nickte versonnen in Richtung des Stacheldrahts.
Jakli drehte sich um und erstarrte. Ein freudiger Ausdruck huschte über ihr Gesicht. In einem Seilpferch zwischen innerem und äußerem Zaun tänzelte ein prächtiges weißes Pferd.
»Unser Weg war einst derselbe, Jakli«, sagte Wangtu und klang dabei seltsam melancholisch. »Ich habe in eurem Lager Lieder gesungen.«
Sie schien ihn nicht gehört zu haben, sondern trat einen Schritt vor, als würde das anmutige Tier in dem provisorischen Gehege sie magisch anziehen.
»Ich könnte eurem ganzen Clan weiße Pferde verschaffen«, schlug Wangtu vor.
»Warum haben Sie das zu Bajys gesagt?« fragte Shan nach. Jakli erwachte aus ihrer Verzückung und trat hinter ihn, als würde Wangtus Angebot ihr irgendwie Angst einflößen.
Wangtu seufzte. »Mir kommt so manches zu Ohren. Zuerst habe ich gehört, es würde bald einen neuen Lehrer geben. Dann saß eines Tages Leutnant Sui hinten bei mir im Wagen und erzählte dem Schulleiter, Lau sei von einem anderen Lehrer gemeldet worden. Angeblich habe sie während des Unterrichts Namen vom Neunundzwanzig-Fünfer und später eine Liste von 1997 verlesen.«
»Dissidenten«, warf Jakli schnell als Erklärung für Shan ein und schaute zum Lastwagen. »Aber sie wurde nicht verhaftet, sondern ermordet.«
Wangtu schnaubte verächtlich und öffnete den Mund, als wolle er lachen. »Ermordet? Nein. Verschwunden, irgendwo am Fluß. Sie könnte immer noch zurückkommen.«
»Mit einer Kugel im Kopf«, sagte Shan. »Wir haben ihre Leiche gesehen.«
Wangtu sah Jakli an, die Shans Worte mit einem Nicken bestätigte. Er verzog das Gesicht und nahm dann Shan mißtrauisch in Augenschein. »Wer hat Sie hergeschickt?«
»Priester.« Jakli kam Shan zuvor, als fürchte sie, er könne etwas Falsches sagen. »Priester wollten, daß er kommt.«
»Priester?« Nun war Wangtu sichtlich verwirrt. »Meinst du damit einen Mullah?«
»Das ist gleichgültig«, erwiderte Jakli mit neuerlicher Ungeduld. »Es gibt keine schlechten Priester.«
»Aber natürlich gibt es schlechte Priester. Zum Beispiel diejenigen, die dieses Lager leiten.« Wangtus Stimme klang dumpf, und seine Augen funkelten. »Wie hat es der Vorsitzende doch gleich ausgedrückt? Religion vergiftet das Volk. Also hat er alle anderen Religionen beseitigt und statt dessen seine eigenen Priester ausgesandt.« Er wandte sich wieder Shan zu. »Die Anklägerin behauptet lediglich, Lau sei verschwunden. Sie hat zu uns gesprochen, zu allen Inhaftierten. Sie sagte, vielleicht hätten irgendwelche Reaktionäre Lau etwas angetan oder sie womöglich entführt. Das sei gar nicht so unüblich, hat sie uns erzählt, denn man wolle im Austausch eigene Komplizen aus dem Gefängnis freipressen. Eventuell könnte ja einer von uns einen hilfreichen Hinweis geben, hieß es.«
»Ich habe Lau gesehen«, sagte Jakli kühl. »Sie ist tot, aber die Anklägerin darf es nicht erfahren. Damit wäre keinem geholfen.«
Wangtu stieß einen leisen Pfiff aus und schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe Lau gemocht.« Der Blick des Kasachen richtete sich auf den alten Mann, der sich nur mühsam die Stufen hinaufgeschleppt hatte. Er lehnte neben der Tür an der Wand und rang keuchend nach Luft.
Shan sah den Alten ebenfalls. »Er ist ziemlich alt für ein Reislager«, stellte er fest. Die Umerziehungsbemühungen des Volkes wurden nur selten an jene verschwendet, die kaum noch etwas zur Leistung des Proletariats beitragen konnten.
Wangtu runzelte mißbilligend die Stirn, als wäre Shan als Han-Chinese dafür verantwortlich, daß der Mann hier gefangengehalten wurde. »Er ist Lehrer. Vierzig Jahre lang hat
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