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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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das als Küche und Speisesaal diente.
    »Es tut mir leid«, sagte er und mußte gegen den Drang ankämpfen, erneut seine Tätowierung zu umklammern.
    Diese Worte laut auszusprechen verlieh ihm zwar in gewisser Weise Kraft, verstärkte jedoch auch sein Schamgefühl. Es gibt hinter dem Stacheldraht nichts, wovor man sich fürchten müßte, hatte vor einigen Jahren heiter und gelassen ein alter Mönch zu ihm gesagt, der damals bereits das fünfunddreißigste Jahr seiner Haft verbüßte. Auf einmal konnte Shan sich wieder genau daran erinnern. Denn keinem Wärter wird es jemals gelingen, der Wahrhaftigkeit Ketten anzulegen.
    Er stieg aus und blickte zu der ersten der Unterkünfte in etwa zweihundert Metern Entfernung, die offenbar besonders gesichert war. »Werden die Häftlinge aus dieser Baracke dort auch zum Unterricht befohlen?« fragte er Jakli.
    »Nein. Hier im Lager nennt man sie die Unsichtbaren«, erklärte sie seufzend. »Sonderfälle, die meistens gar nichts mit Yutian zu tun haben.«
    Shan starrte das Gebäude eindringlich an, als wolle er versuchen, mit seinem Blick die Wände zu durchdringen.
    »Ihr Lama«, sagte Jakli, die sein Verhalten plötzlich begriff.
    »Sie glauben, er sei dort drinnen.« Sie sah ihn einen Moment lang an und zupfte ihn dann am Ärmel. »Es ist gefährlich, zu neugierig zu wirken.«
    Shan kämpfte gegen ein neues Verlangen an. Am liebsten wäre er zu der verschlossenen Baracke gerannt, hätte an die Tür gehämmert und laut nach Gendun gerufen. Im Augenblick schien es nichts Wichtigeres für ihn zu geben, als die Stimme des Lama zu hören.
    An der Seite des Speisesaals öffnete sich eine Tür, und einige Männer in weiten grauen Gewändern traten heraus. Jakli lief ihnen entgegen und verschwand in dem Gebäude. Shan ließ den Blick über das Gelände schweifen, das inzwischen wieder ziemlich leer wirkte, nachdem der Unterricht der Häftlinge begonnen hatte. Dann reihte er sich in die Schlange der Männer ein, die begannen, Reissäcke in die Küche zu tragen. Er schaute zu der Baracke mit den vergitterten Fenstern und suchte vergeblich nach irgendeinem Hinweis auf die darin befindlichen Personen. Dann nahm er einen der schweren Säcke, folgte den anderen durch die Tür und lud die Last auf einem großen Haufen ab, neben dem eine Frau in einem braunen Kleid Aufsicht führte, keifend Anweisungen erteilte und dabei herrisch mit einem Holzlöffel gestikulierte. Am Spülbecken stand ein hochgewachsener Mann mit einer Narbe auf der Wange und wusch Kochtöpfe ab. Allerdings benutzte er dazu nur eine Hand. Shan trat ein Stück näher und erkannte den Grund. Der Mann hatte einen leisen Singsang angestimmt. Seine andere Hand lag am Gürtel und ließ die gelben Plastikperlen einer Gebetskette durch die Finger gleiten. Daneben stand ein zweiter, älterer Mann und trocknete das Geschirr ab, wenngleich ihm dies einige Probleme zu bereiten schien. Er balancierte die Töpfe jeweils auf einer Handfläche, wischte sie mit der anderen Hand trocken, hob sie dann mit beiden Mittelfingern an und verstaute sie in einem Wandregal. Er hatte keine Daumen mehr. Noch ein Tibeter. Shan sah so etwas nicht zum erstenmal.
    Während seiner Haft war keine Woche vergangen, in der die Wachposten sich nicht grausame Scherze über die »Zurechtstutzung« der Tibeter erlaubt hätten. Einige Jahre lang war dies eine bevorzugte Art der Bestrafung gewesen, die gewisse Offiziere der Kriecher ihren Gefangenen angedeihen ließen: Mit Baumscheren wurden den Mönchen die Daumen amputiert, um die Männer so am Beten ihrer Rosenkränze zu hindern.
    Shan schaute durch eine zweiflügelige Tür auf die langen Reihen leerer Holztische. Am anderen Ende des Speisesaals hatte sich eine der Gruppen zum politischen Unterricht versammelt. Eine große, ebenfalls braungekleidete Han-Chinesin schritt mit auf dem Rücken verschränkten Händen im Kreis der sitzenden Häftlinge auf und ab. Sie blickte kurz zur Tür und meldete sich dann plötzlich zu Wort, und zwar so laut, daß Shan im ersten Moment erschrocken glaubte, sie würde sich an ihn wenden.
    »Wer ist der großartige Ernährer des Volkes?« rief sie mit schriller Stimme.
    »Die Partei ist der großartige Ernährer des Volkes«, antworteten die Gefangenen im Chor. Es klang wie eine vertraute Litanei. Ein Mantra für den Vorsitzenden.
    Shan drehte sich wieder zu dem Tibeter am Spülbecken um, der nichts von der allgemeinen Hektik wahrzunehmen schien und statt dessen sein eigenes leises

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