Das Babylon-Virus
darunter: der Spiegel der Venus, wie es bei den alten Römern hieß, in dem die Göttin sich betrachtete, wenn sie sich noch ein wenig hübscher machte als gewöhnlich. Doch die alten Babylonier waren lange vor den alten Römern da, und die hatten ihr eigenes Symbol, das nie ganz in Vergessenheit geraten ist: ein achtstrahliger Stern, commandante . Das ursprüngliche Zeichen für den Morgenstern. Acht , verstehen Sie? Achtmal erscheint ein achtstrahliger Stern in dieser Handschrift! Acht! Eine heilige Zahl, mit die heiligste überhaupt. Der Felsendom in Jerusalem besitzt einen achteckigen Grundriss, die Pfalzkapelle Karls des Großen in Aachen, San Vitale in Ravenna und … Überlegen Sie! Denken Sie an Friedrich II.!«
Duarte stutzte, biss sich auf die Lippen. »Castel del Monte!«, murmelte er. »Deshalb wollen Sie zurück nach Italien!« Anerkennend pfiff er durch die Zähne, was Amadeo in diesem Moment als vage unangemessen empfand angesichts einer solchen Entdeckung. Doch letztlich stammte dieser Mann ja aus demselben Rebellenklüngel wie Rebecca. Was sollte er sich da noch wundern?
»Castel del Monte«, bestätigte Amadeo. »Friedrichs bedeutendstes und zugleich rätselhaftetes Bauwerk - in einer Gegend von Puglia, wo sich heutzutage Fuchs und Hase gute Nacht sagen. In Weimar musste ich den Leuten immer sagen: Sie wissen schon, im Absatz des italienischen Stiefels.
Ich denke, das sagt einiges. Eine achteckige Festung mit acht achteckigen Türmen rund um einen achteckigen Innenhof. Acht! Als wenn man das noch dem tumbesten Ziegenhirten in den Schädel hämmern wollte. Acht! - ein Symbol für den Kaiser selbst, für seine unbegrenzte, unendliche Macht auf Erden. Castel del Monte ist mehr als eine Festung. Es ist genau das, was wir suchen: ein Zeichen . Ein Code.«
»Sein persönlicher Babyloncode?«
»Es gibt die unterschiedlichsten Theorien«, murmelte der Restaurator. »Wobei auf die Babylongeschichte natürlich noch niemand gekommen ist. Schließlich wusste ja kein Mensch davon bis vor ein paar Tagen … bis auf einen großen Geist pro Generation. Einige Forscher halten das Kastell für ein Jagdschloss, andere deuten es als Symbol der römischdeutschen Kaiserkrone Friedrichs - die war ebenfalls achteckig. Wieder andere glauben, dass die Mauern nach astronomischen Maßstäben ausgerichtet wurden …«
»Der Morgenstern«, murmelte Duarte.
»… was natürlich Unsinn ist wie neue Vermessungen bewiesen haben. Mit einem Wort: Wir wissen bis heute nicht, warum es wirklich da ist und wozu es dienen sollte. Vermutlich war es noch gar nicht fertiggestellt, als Friedrich starb. Castel del Monte ist einfach da, und seine reine Existenz ist rätselhaft genug. Doch möglicherweise …« Amadeo betrachtete die Fotokopie. Was hätte er dafür gegeben, das Original in der Hand halten zu dürfen.
»Das ist der einzige Ansatz für einen Code, den ich bisher finden konnte«, gestand er. »Bei Einstein lag der Schlüssel in der Mathematik, bei Goethe in der Literatur. Händel hat seine Route in der Komposition versteckt. Und Friedrich … Friedrich war einer der mächtigsten Männer seiner Zeit. Er stand im Briefwechsel mit jüdischen Gelehrten und arabischen Wissenschaftlern. Er verfasste ein Buch über die Falkenkunde,
das bis ins zwanzigste Jahrhundert wegweisend blieb. Er sprach Latein, Französisch, Griechisch, Hebräisch, Arabisch und verschiedene italienische Dialekte - nur Deutsch nicht besonders gut. Ein Typ, den man nur lieben und verehren oder aber abgrundtief hassen konnte, wie die Kirche das tat. Der gottgesandte Kaiser der Endzeit oder der Antichrist in Menschengestalt … Der ganze Mann ist ein Rätsel, aber nirgendwo ist er rätselhafter als hier, in seiner rätselhaftesten Schöpfung. Und vielleicht …«
Ein Schauer durchfuhr Amadeo.
»Vielleicht sind wir ihm endlich auf der Spur«, flüsterte er.
Ali-Baba-Pass am Rande des Hindukusch, Afghanistan
»Bist du nicht neugierig, was er gesagt hat?«
Alyssa hob die Schultern, was sich unter diesen Umständen nur als Nein interpretieren ließ. Doch immerhin hatte sie nicht Nein gesagt , wie sie den ganzen Morgen noch kaum ein Wort gesprochen hatte, während sie mit stumpfem Blick durch die Frontscheibe des Bundeswehr-Jeeps vom Typ »Wolf« starrte. Auf die Berge, dachte Rebecca. Auf die Berge, in denen es irgendwo eine Felswand gab, die vor einem geheimnisvollen, dunklen Ort in der Tiefe warnte. Auf die Berge, in denen sich der … nun ja, Mann befand, den
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