Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Babylon-Virus

Das Babylon-Virus

Titel: Das Babylon-Virus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan M. Rother
Vom Netzwerk:
war es aus der engen, kahlen Wildnis der Marken nach Süden gegangen, in die fruchtbaren Ebenen von Puglia, in das Hügelland der Murge, das schon dem alten Rom als Kornkammer gedient hatte.
    Den elfjährigen - oder zwölfjährigen - Amadeo hatte es kaum auf dem Sitz gehalten. Unruhig war er hin und her gerutscht, auf und ab gehüpft auf dem rissigen Leder der ausgebleichten Sitzbezüge. Der Geruch … Er hatte den Geruch, den das Innere des altersschwachen Ford verströmte, noch immer in der Nase, doch zugleich schien es ihm, als wäre die Erinnerung seit Jahren nicht so deutlich gewesen wie in diesem Moment. Vielleicht lag es daran, dass es in der Fahrgastkabine der Messerschmitt ganz ähnlich roch.
    Der Ford von Ruggieros Eltern hatte Städte durchquert, und bei jedem Ortsschild war Amadeo der Atem gestockt: Lucera , Foggia , Andria . Dem elfjährigen - oder zwölfjährigen - Jungen war es vorgekommen, als sei er schon einmal hier gewesen. Es gab keinen Zweifel. Und: einmal? Unsinn! Tausendmal, in seinen Träumen. Lucera, die Stadt, in der Friedrich II. seine treu ergebene Garde muslimischer Sarazenen angesiedelt hatte, mitten in einem christlichen Königreich. Foggia, das ihm so oft als Residenz gedient hatte. Andria, die Stadt, die ihm wie keine andere ergeben gewesen war. Und an allen diesen Orten gab es Überreste, spärliche Ruinen nur zum Teil, doch in Amadeos Kopf hatten sie sich mit Leben gefüllt, mit dem glänzenden Hofstaat des Kaisers, in dem sich Philosophen, Alchimisten, Astronomen die Klinke in die Hand gaben, aus Abendland und Morgenland. Am Himmel waren in seiner Fantasie die Jagdfalken gekreist, Friedrichs große Leidenschaft. Eine Menagerie exotischer Tiere, die den Kaiser auf seinen Reisen begleiteten,
war durch Amadeos Kopf defiliert - Leoparden, Antilopen, sogar ein Elefant war dabei, der erste in Europa seit Jahrhunderten. Und dann die Favoritinnen des Kaisers, die Schleier tragen mussten wie bei den Muslimen und die in einem Harem lebten, bewacht von Eunuchen. Der elf … Maledetto , er musste dringend mit seiner Mutter reden, wie alt er wirklich gewesen war! … Der Junge jedenfalls hatte eher verschwommene Vorstellungen gehabt, was Favoritinnen oder ein Harem waren - und Eunuchen sowieso -, doch das hatte das Ganze nur noch aufregender gemacht. Alles zusammen hatte ein so unglaubliches, leuchtendes und zugleich geheimnisvolles Bild ergeben … Ein Traum. Und das Zentrum dieses Traums, der innerste Kern dieses großen, aufregenden Rätsels war ihr Ziel gewesen: Castel del Monte.
    Immer wieder hatte es Amadeo seitdem zu Friedrichs rätselhafter Schöpfung gezogen, doch keiner dieser Besuche war zu vergleichen gewesen mit diesem allerersten Mal.
    Keiner. Bis heute.
    Was hätte Friedrich für diesen Blick gegeben?
    Vorausgesetzt, er hatte die Fertigstellung von Castel del Monte überhaupt erlebt: Wie oft mochte er auf der Spitze eines der achteckigen Türme gestanden haben, die heute fast bis auf das Niveau des Haupttraktes abgetragen waren? Wie oft mochten seine Augen dem Flug seiner Falken gefolgt sein, die vor dem Blau des apulischen Himmels ihre Kreise zogen? Wie oft mochte er sich das Bild ausgemalt haben, das sich dort oben in den Lüften dem Blick der Tiere bieten musste? Die geometrisch ausgeklügelte Anlage in ihrer ganzen rätselhaft-symbolischen Majestät.
    Der Blick der Falken. Derselbe Blick, den jetzt die Männer in der Messerschmitt 108 hatten, die der Kaiser in seinen kühnsten Träumen nicht einkalkuliert haben konnte. Für einen Menschen des dreizehnten Jahrhunderts war dieser
Blick vor allem die Perspektive Gottes gewesen. Ihm, Gott, galt die Botschaft des Kaisers: Acht! , rief sie zu den Gestirnen empor. Acht! Die Zahl der Vollkommenheit, der Unsterblichkeit und Unendlichkeit … in der Mathematik ja bis heute als liegende Acht. Schau her, Gott! Ein Mensch kann unendlich, unsterblich, vollkommen sein. Dieser eine Mensch zumindest - ob er sich nun als Gottes vornehmster Diener auf Erden verstand oder sich selbst von einem Hauch der Göttlichkeit umflattert wähnte.
    Castel del Monte, dachte der Restaurator, war Friedrichs persönlicher Turm zu Babel.
    »Es muss anders ausgesehen haben damals«, sagte Amadeo mit rauer Stimme. »Mehr Wald hier und da, noch nicht so zersiedelt. Aber trotzdem: Castel del Monte war eine Landmarke, ein Fixpunkt, der schon von Weitem den Blick einfing. Die Krone Apuliens … wahrscheinlich noch deutlicher, als die Türme noch da waren. Bis zu

Weitere Kostenlose Bücher