Das Babylon-Virus
Alyssa liebte, in der Gewalt seiner Häscher. Auf die Berge, die schroffen Hänge und schneebedeckten Gipfel, die mit quälender Langsamkeit näherkamen.
Gleich einem urzeitlichen Reptil aus mit Tarnfarben lackiertem Stahl schleppte sich der Militärkonvoi über die unbefestigte Piste dahin. Wie ein Menetekel ragten links und
rechts die Skelette von Militärfahrzeugen aus dem Boden, halb verschlungen vom Sand der Wüste: morbide Erinnerungen an die sowjetische Invasion, die noch keine dreißig Jahre zurücklag.
Die Wüste duldet nichts, was nicht hierher gehört, dachte Rebecca. Die Wüste nicht und genauso wenig die Berge. Das gesamte Land nicht.
»Der neue Text stammt von Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen«, wandte sie sich an ihre Schwester. »Aus dem dreizehnten Jahrhundert. Ist natürlich auf Latein, aber Amadeo hat mir die wichtigsten Stellen gleich übersetzt. Netter Service, oder?« Rebecca versuchte, ihrer Stimme einen munteren Klang zu geben, sprach aber leise. Der Soldat, der ihren Jeep lenkte, machte nicht den Eindruck, als wäre er besonders interessiert am Gespräch der beiden Frauen, doch hätte sich Rebecca ihr Leben lang auf den bloßen Augenschein verlassen, wäre es ein ziemlich kurzes Leben geworden.
Alyssa hob die Schultern. »Und was steht drin?«, fragte sie, ohne ihren sezierenden Blick von der afghanischen Bergwelt abzuwenden.
»Dasselbe wie in den anderen auch«, gab Rebecca zu. »Aber deutlicher. Die Babylonier haben das Heilmittel in den Osten gebracht - hierher, in den Hindukusch. Sie haben eine lacuna in muro durchschritten, eine Bresche in der Mauer - wahrscheinlich das Pendant zu der Stelle bei Händel, wo es heißt, der Engpass wäre carved in the shoulder of the mount . Der Ali-Baba-Pass«, murmelte sie und blickte für einen Moment in dieselbe Richtung wie ihre Schwester. »Vielleicht. - Der Unterschied ist, dass der Kaiser Andeutungen macht, was sich dahinter befindet. Nur dass Amadeo sich nicht sicher ist, ob er die richtig verstanden hat, weil sie möglicherweise irgendwie symbolisch gemeint sind
und deshalb schwer zu übersetzen. Ein arcus lapideus ist jedenfalls ein steinerner Bogen; wohl derselbe, den Händel als stony arc bezeichnet. Aber frag mich mal, was eine faux loricatorum sein soll, ein Tal der Gerüsteten . Oder ein domus araneae , ein Haus der Spinne . Irgendwas mit einem Netz vielleicht?« Sie hob die Schultern. »Aber das kommt beides erst später.«
»Und was kommt vorher?«, fragte Alyssa. »Zuerst der Ali-Baba-Pass und dann?«
Rebeccas Blick glitt über die Wüste. »Auf jeden Fall bewohntes Gelände. Wir sollten nach einem aedificium magnum Ausschau halten, einem großen Gebäude . Einem Gutshof vielleicht, einem herrschaftlichen Anwesen. Das klingt nicht zu speziell.«
»Hier wär das schon ziemlich speziell«, sagte Alyssa leise. »Vom Pass bis Shah Anjir gibt es nichts, was man irgendwie als Siedlung bezeichnen könnte - und das sind um die fünfzig Kilometer. Luftlinie, quer durchs Gebirge. - Jetzt! «, zischte sie plötzlich. »Links vom Pass!«
»Was?« Rebecca blinzelte, schaute aber gleichzeitig in die gewiesene Richtung. Ein kurzes Aufblitzen an der rauen Flanke des Berges, vielleicht hundert Meter oberhalb des scharfen Einschnitts im Felsen. Schon war es vorbei. Nein, da war es wieder. Mündungsfeuer? Rebecca schüttelte den Kopf. Mündungsfeuer sah anders aus.
»Was ist das?«, flüsterte sie.
Wollte Alyssa antworten? Jetzt schwieg sie jedenfalls, denn im selben Moment brachte der Fahrer den Jeep zum Stehen. Rebecca sah, dass auch der Rest des Zuges angehalten hatte. Der Soldat murmelte irgendwas von Besprechung und verschwand ohne ein weiteres Wort.
Rebecca war sich sicher, dass er nichts von ihrem Gespräch mitgekriegt hatte - und auch sonst schien niemand
im Zug ein Auge auf die Berge zu haben. Niemand bis auf Alyssa - und nun auch Rebecca selbst.
Minuten vergingen, ohne dass eine der beiden Frauen ein Wort sprach. Und da war es wieder! Hatte das Blitzen sich verlagert? War es um eine Winzigkeit nach oben gewandert? Es war … Eine Reflexion, dachte Rebecca. Ein metallener Gegenstand, auf dem sich die Sonne spiegelte, wenn er sich bewegte. Eine Waffe? Metallene Gegenstände bewegten sich nicht selbsttätig. Allmählich wurde ihr klar, warum ihre Schwester die ganze Zeit so schweigsam gewesen war. Nein, kein dumpfes Brüten, keine nachtschwarzen Gedanken um Fabio. So war Alyssa niemals gewesen - dazu waren die Schwestern einander
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