Das Babylon-Virus
Höhle.
Doch das Heiligtum in der erkalteten Lava war mehr. Es war ein Ort, zu dem sich die Menschen seit Jahrhunderten aufmachten und schon zu einer Zeit aufgemacht hatten, als der mondäne Kurort, zu dem das Kloster heute gehörte, noch übel verschrien gewesen war als Unterschlupf von Straßenräubern.
»Sehen Sie das?«, wisperte Amadeo und machte einen Bogen um eine Skulptur des Erzengels Michael, die eindeutig jünger war als die Kapelle und auf den Stufen Wache hielt wie ein überdimensionierter Gartenzwerg.
»Die Formen sind noch ganz byzantinisch«, flüsterte Amadeo. »Obwohl Byzanz längst auf dem absteigenden Ast war hier in der Gegend. Die Augen? Sehen Sie die Augen?«
Vorsichtig stützte er sich auf den steinernen Bogen, der Einlass in das kleine gewölbte Viereck gewährte. Zwei Meter im Quadrat und kaum nennenswert höher, doch die Fresken, die den winzigen Raum schmückten, gehörten zum Eindrucksvollsten, das die mönchischen Maler des beginnenden Mittelalters hinterlassen hatten.
»Hier, an der Stirnseite, haben Sie Jesus Christus«, murmelte Amadeo. »Flankiert von der Gottesmutter und Johannes dem Täufer. Und hier, links und rechts, zwei Dreiergruppen von Heiligen. Leider ist nicht mehr zu erkennen, welche Heiligen es sein sollen, aber sind sie nicht unglaublich …« Er suchte nach Worten. »Unglaublich unglaublich ?«, fragte er.
»Und wo liegt das Depot?«
Amadeo blinzelte. Ein unfreundliches Wort lag ihm auf der Zunge, aber der commandante hatte natürlich recht.
»Kommen Sie her«, sagte er und trat einen Schritt beiseite. In der Kapelle war gerade Platz genug für sie beide. Amadeo deutete nach oben in das Tonnengewölbe.
Er war zum ersten Mal hier, doch er hatte Abbildungen gesehen von dem, was er nun vor sich - über sich - hatte. Jetzt, aus nächster Nähe, erkannte er Einzelheiten, die in den Aufnahmen nicht sichtbar gewesen waren. In diesem Moment schwanden seine letzten Zweifel. Nein, er hatte sich nicht getäuscht.
»Ein Adler«, murmelte Duarte.
»Ein Adler«, bestätigte Amadeo und wies auf das Haupt des Vogels. »In der Literatur wird behauptet, er trage eine Schriftrolle im Schnabel, aber da bin ich mir nicht sicher. Vor allem trägt er - einen Heiligenschein.«
»Also ein Heiligensymbol?« Der commandante musterte das Tier. »Ein Evangelistensymbol. Der Mensch steht für Matthäus, der Löwe für Markus, der Stier für Lukas - und für Johannes der Adler.«
»Genau das wird vermutet.« Amadeo nickte. »Von der modernen Wissenschaft. Die Frage ist: Wie würden Sie den Adler deuten, wenn Sie der Kaiser wären?«
»Der Kaiser?«
»Kaiser Friedrich II., die Sonne der Gerechtigkeit und der achtstrahlige Morgenstern. Er stirbt am 13. Dezember 1250 - sub fiore , unter der Blume. An ebenjenem Tag, an dem Sonne und Morgenstern - Venus - aus der Perspektive jener Burg, die er nach dem Grundriss einer Blume hat anlegen lassen, bei einem Azimut von 240 Grad Westsüdwest versinken und zwar genau hier . So genau der Kaiser das angeben konnte. Der Kaiser, den seine Anhänger als Sonne verehrten, als Morgenstern und … na …?«
»Nicht übel, mein Bester.«
Amadeo erstarrte.
»Der Adler also.« Steffen Görlitz nickte. » Wenn auch der Adler der Frühe gefallen ist «, zitierte der Mann mit dem entstellten Gesicht. » So lebt er doch weiter in vielen überlebenden Jungen, die aus ihm hervorgegangen sind. - Das Vermächtnis des Kaisers an die Nachwelt, wenn wir so wollen. Und so wollen wir doch, mein lieber Amadeo, oder?«
Der Restaurator war zu keinem Wort fähig.
Görlitz lehnte an der verzierten Pforte, dem Haupteingang in die heilige Höhle, von der Abteikirche aus. Von der Kirche ! Amadeo spürte eine derartige Wut auf sich selbst … Wie gelangte man für gewöhnlich in das Heiligtum eines katholischen Gotteshauses? Durch die Kirche. Und wie kam man wiederum in die Kirche? Durchs Portal, das Tag und Nacht unverschlossene Portal. Völlig unnötig, am Personaleingang irgendwelche Mönche an die Tür zu klingeln. Görlitz und seine Bande hatten einfach nur durch die Abteikirche spazieren müssen.
»Sonne und Morgenstern sind gesunken«, murmelte der Narbengesichtige. »Aber der Adler lebt weiter und bewacht sein Erbe, bis derjenige eintrifft, dem es gelungen ist, das Rätsel zu lösen. Hübsch, wirklich hübsch. Der Mann gefällt mir, Amadeo. Sagte ich das schon einmal?« Seine Stimme veränderte sich. » Commandante ? Rein zufällig haben wir hier eine ganze Reihe
Weitere Kostenlose Bücher