Das Babylon-Virus
Eingeweiden des Turms. Ein Poltern, das lauter wurde. Donnernde Schritte in der Tiefe, in den Gängen, auf den Stufen. Wortfetzen, barsch hervorgestoßen.
Mit einem Kopfnicken dirigierte Verholen seine Männer an beide Seiten des Treppenaufgangs. Etwas in seinem Gesicht hatte sich verändert.
Alles ist offen, dachte Amadeo. Sie hatten sämtliche Türen, Gänge und Treppen geöffnet auf dem Weg nach oben. Doch an strategischen Punkten hatte der Blonde einzelne seiner Schergen zurückgelassen. Wie waren die Eindringlinge an ihnen vorbeigekommen?
Die Schritte aus der Tiefe wurden von Sekunde zu Sekunde lauter. Schritte - Marschtritte! Ein irrwitziger Gedanke zuckte durch Amadeos Verstand: Rebecca, die ISAF-Männer unter … wie lautete der Name, den sie am Telefon gesagt hatte? Matthiesen? Nein. Merthes. Verholens Hubschrauber trug die Hoheitszeichen der Bundesrepublik Deutschland, doch Amadeo hatte sehr genau registriert, dass der Blonde lediglich mit einer Handvoll seiner Gorillas auf sie gewartet hatte. Und die trugen Zivilkleidung.
Eine Glatze wurde in der Treppenöffnung sichtbar. Ein untersetzter Mann in Uniform, die Brust voller Abzeichen. Das Gesicht, dachte Amadeo. Ich kenne dieses Gesicht!
Hinter dem Mann weitere Soldaten, in Zweierreihen.
Verholens Männer rührten sich nicht. Weder griffen sie an noch wichen sie zurück. Sie standen da wie … Amadeo wurde übel.
Wie ein Begrüßungskommando!
Verholen deutete ein Nicken an. »General. Ich hatte noch nicht mit Ihnen gerechnet.«
»Und ich hatte damit gerechnet, dass Sie längst fertig wären. - Ihre Aufgaben waren bescheiden genug. Jemanden zu finden, der uns hierherbringt, und alles zu eliminieren, was Sie nicht unter Kontrolle kriegen. Ich habe diese Frauen auf ein Himmelfahrtskommando geschickt. Sie hatten nicht mehr zu tun, als die Scherben zusammenzufegen.«
»Das ist geschehen«, sagte Verholen mit seltsam leiser Stimme. »Sie sind ausgeschaltet.«
»Himmelfahrtskommando?«, flüsterte der Restaurator.
»Sie sind der Büchermensch?«
»Ge … General Merthes?«
» Oberst Merthes war bei den Frauen. Oberst Merthes ist tot. - Friedrich Wilhelm von Stoltenbeck, Regionalkommando Nord, International Security Assistance Force .« Automatisch nahm der General militärische Haltung an.
Ganz anders als Amadeo, der Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten.
Stoltenbeck … Die Nachrichtensendung auf RAI uno, am letzten Abend vor seinem Aufbruch nach Deutschland! General F. W. von Stoltenbeck, der strategische Kopf hinter der neuen ISAF-Offensive, die die Taliban und ihre Unterstützer endgültig zum Teufel jagen sollte, wie der General sich ausgedrückt hatte.
Und nun hatte er bewiesen, dass ihm jedes Mittel recht war.
Verholens Auftraggeber war der Oberkommandierende der internationalen Allianz im Norden Afghanistans!
Amadeos Mund war trocken wie Asche. » Sie haben …«
»Wenn ich die Zeit hätte, Söhnchen«, schnitt Stoltenbeck ihm das Wort ab. » Wenn ich die Zeit hätte, würde ich Ihnen eine Lektion in Strategie erteilen. Strategie bedeutet, dass Sie abwägen müssen, jeden Augenblick. Ein Konvoi ist ersetzbar, Mannschaften, einzelne Zivilisten sind ersetzbar. Aber einen Krieg können Sie nur einmal verlieren. Der Einzelne ist nichts . - Passen Sie auf!«
Er drehte sich um.
»Wieblitz! Tschechow!«
Zwei seiner Soldaten traten vor. Sie trugen einen schweren Gegenstand, der an eine Transportbox für Haustiere erinnerte. Mit einem matten Geräusch wurde er am Boden abgesetzt. Einer der Männer betätigte eine Verriegelung, eine Klappe.
Käfer.
Wie dunkle Kiesel, nachtschwarze Murmeln rieselten sie hervor. Die einzelnen Exemplare maßen nur wenige Zentimeter, doch es mussten Hunderte sein, Tausende, ein wimmelnder, zirpender Hügel.
» Coleoptera .« Es war Amadeo, zu dem Stoltenbeck sprach, doch seine gesamte Aufmerksamkeit galt den Tieren. »Ich habe mir erlaubt, sie agathidium stoltenbecki zu taufen. Diese Art war der Forschung vollständig unbekannt bis vor einigen wenigen Wochen. Man könnte sie für Lucaniden halten, wegen der mächtigen Mandibeln. Wie den Hirschkäfer. Doch Lucaniden sind Waldbewohner, die sich von Baumsäften ernähren, während unsere Freunde hier ausschließlich … Pilze.« Er senkte die Stimme. »Sehen Sie?«, flüsterte er.
Das schimmernde Leuchten der Grenzlinie war nur wenige Schritte entfernt, und es schien die Tiere anzuziehen. Doch sie marschierten nicht etwa Brustschild über Kopf darauf los,
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