Das Babylon-Virus
hin- und herschieben ließen. Sie sollten einen Sinn ergeben, aber von beiden Seiten der Wand aus gelesen. Ein Mensch hatte auch nur zwei Augen - und die saßen ziemlich dicht beieinander.
Gleichstand.
Jedes Mal, seitdem sie den Turm betreten hatten und Ebene um Ebene emporstiegen.
Als hätten sich die babylonischen Urväter das Ganze nur aus einem einzigen Grund ausgedacht: um Amadeo Fanelli und Steffen Görlitz etwas ganz Bestimmtes zu demonstrieren.
Hinter dem art-déco- Portal ging es eine schmale Treppe hoch. Die Wände waren mehrfach durchbrochen, gaben den Blick frei auf Details, mit denen die Konstrukteure die obersten Etagen ihres Bauwerks geschmückt hatten: ionische Säulen wie ein Direktimport aus dem antiken Griechenland. Ein paar Stufen weiter zuckerbäckerartige Türmchen, die jeder gotischen Kathedrale Ehre gemacht hätten. Dann wieder entfaltete sich der Stein zu Segeln wie am Opernhaus von Sydney aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Es war unglaublich. Jahrhunderte trennten die geistigen Epochen voneinander, denen die menschliche Zivilisation diese künstlerischen Ideen verdankte, und doch passte hier eins zum anderen, auf eine ganz natürliche Weise. Als wäre all dies nicht im eigentlichen Sinne konstruiert und erbaut worden, sondern auf eine organische Weise gewachsen . Was Menschen auch nur erdacht, erträumt, erkannt hatten: Alles war an einem einzigen Ort versammelt. Und nichts davon wirkte überladen oder unharmonisch, im Gegenteil.
Der Anblick war schön. Nicht mehr und nicht weniger. Schön. So viel mehr als ein Haufen aufgetürmten toten Steins … oder Metalls.
»Lebendig«, flüsterte Amadeo. Das unterschied den Turm von Babel von jedem anderen Bauwerk, das er jemals zu Gesicht bekommen hatte. »Als ob er lebt und atmet. Er ist lebendig.«
Er hatte zu niemandem Bestimmten gesprochen, am ehesten zu sich selbst, doch Görlitz hielt an seiner Seite inne.
»Weil er noch nicht fertig ist«, murmelte der Mann mit dem entstellten Gesicht. »Es wird noch immer an ihm gebaut. Er kann gar nicht fertig werden. Weil es nicht nur um die Geschichte der Babylonier geht, sondern um die ganze Menschheit. Mit jedem neuen Kapitel verändern sie den Turm.«
»Nichts, was sich jemals entwickelt hat, existiert für sich allein«, sagte Amadeo leise. »Es war nicht zu Ende, als Gott die Seuche gesandt hat. Es hat gerade erst begonnen, oder …« Er schüttelte den Kopf, war sich nicht sicher, woher die Worte kamen - aus derselben Quelle vielleicht wie seine Träume, mit denen für ihn alles angefangen hatte. »Oder vielleicht gibt es gar keinen Beginn und kein Ende, wenn alles zusammengehört. Die einzige Frage ist …«
Er verstummte, sah sich über die Schulter um. Verholen und seine Männer hielten Abstand, wie sie es die ganze Zeit getan hatten. Fragend sah Görlitz den Restaurator an.
»Die einzige Frage ist: Wo sind die Menschen, die diesen Turm erbaut haben?«, fragte Amadeo. »Die ihn immer noch bauen und verändern? Wo sind die Babylonier?«
Görlitz sah ihn an. Amadeo konnte den Ausdruck auf dem entstellten Gesicht nicht deuten. Görlitz betrachtete ihn, nein, der Blick seines Kollegen ging über Amadeos Schulter hinweg.
»Sieh selbst«, sagte Görlitz. »Die Muschelschalen, die aussehen wie aus der Renaissance.«
Amadeo hob die Augenbrauen, drehte sich suchend um.
Da waren die Muscheln. Sie waren kaum handtellergroß, bestanden aus demselben dunklen Material wie die gesamte Turmarchitektur und krönten eine giebelartige Form, die er um mehrere Jahrhunderte früher eingeordnet hätte. Auch hier der Eindruck des Lebendigen: als wenn sie zu atmen, ja, sich zu bewegen schienen.
Amadeo blinzelte.
Da bewegte sich tatsächlich etwas!
Er kniff die Augen zusammen. Der muschelgekrönte Giebel befand sich ein oder zwei Meter entfernt, war Teil eines vorgelagerten Erkers an der Fassade des Turms. Zu weit weg, um ihn mit den Fingern zu berühren, aber nahe genug, um …
»Käfer!«, hauchte er. »Was …« Ungläubig schüttelte er den Kopf, doch nur für einen kurzen Moment. Auf einmal war alles ganz klar, ganz logisch. Die Käfer, zwanzig, dreißig, vielleicht auch hundert von ihnen: Sie bewegten sich viel zu schnell, als dass man wirklich hätte erkennen können, was dort vorging, kletterten umeinander, übereinander, rund um die Muschelformen, die noch unvollständig schienen, als hätte der Künstler an dieser Stelle erst einen groben Entwurf umsetzen können. Doch die
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