Das Babylon-Virus
sondern es kam eine sonderbare Form von Ordnung in den wimmelnden Haufen. Die Tiere bildeten eine weit auseinandergezogene Front, schienen abzuwarten, bis jedes von ihnen bereit war, seinen Platz gefunden hatte. Erst dann bewegte sich die chitingepanzerte Phalanx auf das Kraftfeld zu.
»Machtlos«, flüsterte Stoltenbeck. »Jeder für sich allein.« Nur für einen winzigen Moment sah er zu Amadeo auf. »Doch alle gemeinsam …«
Nur noch Zentimeter, dann hatte die Käferfront das Energiefeld erreicht.
Eine Sekunde lang schien es etwas stärker aufzuleuchten - dann war es verschwunden.
Und mit ihm die Käfer.
»Der Einzelne ist nichts«, stellte Stoltenbeck andächtig fest. »Selbst bei diesen Tieren, die wahrhaft einzigartig sind. Alles, was zählt - ist die Aufgabe.«
Das Flüstern der Elektrizität, das bis zu diesem Augenblick allgegenwärtig gewesen war, schwieg. Die jahrtausendealte Maschinerie der Babylonier stand still.
Der Weg war frei. Die Treppe zur obersten Ebene des Turms von Babel.
Das Tal der Gerüsteten
»Das kann nicht wahr sein«, flüsterte der Oberst. »Das darf nicht wahr sein.«
Rebecca hätte Mitleid mit ihm gehabt, wäre in ihrem Kopf noch Platz gewesen.
Platz für etwas anderes als die atemlose Anspannung, mit der sie das Leuchten an der Spitze des Turms beobachtete.
Dort oben war Amadeo.
Dort oben befand sich das Heilmittel.
Und General Friedrich Wilhelm von Stoltenbeck mit einem Elitekommando der internationalen Task Force für den Norden Afghanistans.
Mit einem Mal passte alles zusammen.
Stoltenbeck war als Allererster über einen ominösen verbotenen Ort in der Tiefe des Hindukusch informiert gewesen - Monate bevor die babylonische Seuche über die Menschheit hereingebrochen war.
Nur zu gut erinnerte sich Rebecca an die Videoaufnahmen, die der General ihnen gezeigt hatte. An die Inschrift im Felsen, deren unterster Teil durch den behelmten Schädel eines Soldaten verdeckt wurde. Bessere Aufnahmen gab es nicht.
Hatte Stoltenbeck behauptet.
Stoltenbeck, der selbst ein wenig Altgriechisch lesen konnte.
Was, wenn er in Wahrheit sehr viel bessere Aufnahmen in die Hand bekommen hatte? Aufnahmen mit dem vollständigen Text, Hinweisen, was dort versteckt war vielleicht? Hinweise auf den Turm von Babel, auf die Seuche und darauf, wie sie überwunden werden konnte? Die Ruinen von Babylon befanden sich im Irak, wo es nur so wimmelte von internationalen Schutztruppen. Ein Leichtes für den General mit seinen politischen Verbindungen, dort eine Grabung veranstalten zu lassen, um zu prüfen, ob die Geschichte stimmte.
Und sie stimmte. Die Archäologen hatten Überreste aus babylonischer Zeit gefunden, und die Seuche war ausgebrochen. Stoltenbeck kannte die Zusammenhänge. Nun fehlte ihm nur noch eins.
Das Heilmittel.
Dann konnte er sich alle seine Träume erfüllen, die afghanischen Aufständischen wie geplant zum Teufel jagen und jeden anderen gleich dazu, der sich seiner Vorstellung einer neuen Weltordnung entgegenzustellen wagte: die Nordkoreaner, die Iraner, als Nächstes vielleicht die Chinesen? Oder die Russen? Die Regime Südamerikas, die es wagten, die Politik des Westens kritisch zu betrachten?
Wenn er das Heilmittel einmal in der Hand hatte, konnte er sich in aller Ruhe überlegen, mit wem er es teilen wollte.
Diabolisch, dachte Rebecca.
Unter der Führung des Dorfältesten hatte ihr zusammengewürfelter Trupp eine Felsnische erreicht, von der aus sich das Gelände zu Füßen des Turms überblicken ließ. Ein breiter Graben umgab das Bauwerk, und in der Tiefe schillerte eine Armee von Käfern. Käfer! Zusätzliche Dreingabe für den General, dachte Rebecca düster.
Das Echo eines gespenstischen Lichts, das auf der Spitze des Turms tanzte, zog sich an den Fassaden hinab. Ausgenommen war nur eine schmale Brücke, die über den Abgrund führte - und dort hatte eine halbe Armee Stellung bezogen. ISAF-Männer, Soldaten des Generals. Vermutlich gar keine üblen Menschen in der Mehrzahl, doch Rebecca hielt es für aussichtslos, diesen Männern auseinanderzusetzen, warum das Verhalten ihres Oberkommandierenden nicht in Ordnung war.
Und die Alternative? Resigniert rechnete Rebecca ihre Verbündeten zusammen: sie selbst und Alyssa, dazu zwei Dutzend Stammeskrieger und die verbliebenen Soldaten des Obersts. Und ob Merthes und seine Männer, denen die beiden Schwestern die Hintergründe berichtet hatten, bereit sein würden, sich gegen ihren obersten Befehlshaber zu stellen,
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