Das Babylon-Virus
einem halben Jahrhundert verborgene Geheimnis wartete auf ihn.
Worin es bestand? Amadeo hatte keinen Schimmer. Wohl kaum ein Heilmittel aus dem Zweistromland. So oder so: Er musste nach Deutschland, und die Grippe war vielleicht sogar das geringste Problem. Wie er die Presseberichte verstanden hatte, gab es anscheinend eine ganze Zahl von Menschen, die eine natürliche Immunität gegen die Krankheit besaßen. Nachdem es auch in der officina in den letzten Tagen mehrere Krankheitsfälle gegeben hatte, Amadeo sich aber weiterhin pudelwohl fühlte, konnte er sich begründete Hoffnung machen, dass er selbst zu den Glücklichen gehörte. Vielleicht brachte er ja eine besonders solide Physis mit als Kind der Abruzzen. Erst gestern hatte er mit seiner Mutter telefoniert: In seinem Heimatdorf hatte es bisher noch keine Erkrankungen gegeben.
Was also stand einer Reise nach Deutschland im Wege? Die Sicherheitsvorkehrungen aufgrund der Grippe waren inzwischen kaum noch der Rede wert: An den Flughäfen und Bahnhöfen wurden nur noch Stichproben genommen, und selbst da brauchte sich Amadeo keine Sorgen zu machen. Schließlich war er gesund.
Etwas schwieriger sah es mit der officina aus. Sie hatten schon zwei Leute zu wenig wegen der Grippe, und er musste damit rechnen, dass noch weitere dazukamen. Wenn er nun selbst noch ausfiel … Und wem sollte er die Leitung der Werkstatt übergeben, solange er nicht da war? Luigi würde sich mit Sicherheit Chancen ausrechnen als dienstältester Mitarbeiter, doch der Dicke war ein Chaot, und Amadeo hatte keine Lust, bei seiner Rückkehr eins von seinen Schweineheftchen in der Geschäftskorrespondenz vorzufinden. Gianna andererseits war fast genauso lange bei di Tomasi et figlii beschäftigt, und ihr Organisationstalent stand außer Frage mit einem Stall voller Kinder samt künstlerisch ambitioniertem Vater und Ehemann. Gianna war die richtige Wahl.
Amadeo rief den Briefkopf der officina auf den Schirm und begann eine entsprechende Verfügung zu tippen, überflog das Schreiben noch einmal und ließ es ausdrucken. Er würde es in einem versiegelten Umschlag in Giannas Postfach hinterlassen. Falls es unter den Angestellten böses Blut gab deswegen, ließ sich das nicht verhindern. Amadeo würde sowieso nichts davon mitkriegen - zu diesem Zeitpunkt würde er sich schon irgendwo über den Alpen befinden, wenn alles nach Plan lief.
Der Restaurator stand auf und blickte aus dem Fenster in die römische Nacht. Um diese Uhrzeit, da die Lichter in den Häusern und entlang der Straßen nach und nach verloschen, waren am Himmel einzelne, stecknadelkopfgroße Punkte zu erkennen, die sich trügerisch langsam bewegten: Flieger, die den Flughafen Ciampino ansteuerten oder den Aeroporto Leanordo da Vinci, Fiumicino, außerhalb der Stadt, auf die Küste zu. Amadeos Vorfreude auf diesen Teil der Reise war deutlich gedämpft. Flugreisen hatte er nie gemocht und würde er auch niemals mögen, doch die Sorge um Helmbrecht
war einfach stärker und die Neugier auf das, was ihn in Caputh erwarten würde. Nein, dachte er, nicht Neugier: Akademischer Ehrgeiz. Das klang einfach besser, edler irgendwie.
Vielleicht konnte er sich daran festklammern, wenn ihm über den Wolken erwartungsgemäß speiübel werden würde.
Er kehrte zurück an seinen Schreibtisch, faltete den Einstein-Text sorgfältig zusammen, steckte das Anschreiben des Professors dazu, den beachtlichen Stapel an Notizen, die er im Laufe des Tages angefertigt hatte, und verstaute alles in seiner Aktentasche.
Es würde noch dunkel sein, wenn seine Maschine startete, und bis dahin hatte er jede Menge zu packen.
Und Rebecca. Den Gedanken an sie hatte Amadeo den ganzen Tag hindurch beiseitegedrängt, wie er das immer tat, wenn sie unterwegs war. Das war die einzige Möglichkeit, nicht den Verstand zu verlieren. Rebecca. Irgendwie musste er Rebecca erreichen.
Tag zwei
Rom, Trastevere
Rebecca Steinmann hatte sich oft gefragt, was das für ein Gefühl sein musste für Amadeo, nach der Arbeit in eine leere Wohnung zu kommen.
Jetzt wusste sie es.
Auf dem Couchtisch des kleinen Appartements hatte einer von seinen Post-its geklebt: Er liebe sie, vermisse sie, sei mit den Gedanken ständig bei ihr, müsse aber auf der Stelle in einer dringenden Angelegenheit verschwinden. In ein paar Tagen werde er wohl wieder zurück sein. Sogar ein verschnörkeltes Herzchen hatte er daneben gemalt.
Eine Retourkutsche, dachte sie. Der Zettel hätte von ihr selbst stammen
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