Das Babylon-Virus
Neonstrahlern waren entlang der Tischkanten aufgereiht. Der Professor musste jede einzelne Lichtquelle aus dem gesamten Institutsgebäude hier versammelt haben, und alle Helligkeit war auf einen bestimmten Bereich in der Mitte gerichtet: eine auf einen Holzrahmen gespannte großformatige Leinwand, auf der sich blasse Schriftzeichen abhoben.
»Amadeo.« Der Professor wirkte noch immer wie ein Maulwurf, der sich unverhofft ans Tageslicht verirrt hatte, doch jetzt nickte er eifrig. »Amadeo. Natürlich. Amadeo. Schön. Sehr schön. Bitte … Helfen.« Er deutete auf den Rahmen,
trat mit unsicheren Schritten ein Stück zurück. »Reproduktion«, erklärte er knapp. »Aber erstklassig. Einzelstück. Assyrisch. Angeblich. Vermutlich älter.«
»Sind Sie in Ordnung, Professor?« Zögernd hob Amadeo die Leinwand an, um sie auf Helmbrechts Anweisung hin in einer Ecke des Raumes gegen ein Regal zu lehnen. Zufällig fiel sein Blick dabei auf die Telefonanlage, deren Kabel nutzlos in der Luft baumelte. Vermutlich hatte der Professor die Steckdose für seine Strahler gebraucht.
»Müde.« Helmbrecht kniff die Augen zusammen. »Nur müde. Etwas müde. Sonst in Ordnung.«
Das war eine glatte Lüge. Der Professor war ganz und gar nicht in Ordnung. Auf jeden Fall war er anders, als Amadeo ihn je zuvor erlebt hatte. Diese Augen … Und seine Sprache …
Amadeo und Rebecca tauschten einen Blick.
Krankenhaus , formten die Lippen der rothaarigen Frau.
Fast unmerklich schüttelte Amadeo den Kopf. Sie hatte ihm selbst erzählt, dass in den Krankenhäusern nichts mehr zu wollen war.
»Geh nicht ins Krankenhaus!«, knurrte Helmbrecht.
Amadeo zuckte zusammen. Was auch immer mit dem Professor los war: So schnell entging ihm nichts.
»Müde. Nur müde. Verstehe … alles. Muss … weiter untersuchen.« Mit einer fahrigen Handbewegung wies er auf seine Handschriften, bezog auch die Reproduktion mit ein, die jetzt in der Ecke lehnte. Aus dem fiebergetrübten Blick sprach Entschlossenheit. »Kann wichtig sein. Details. Müssen aufpassen. Alles möglich. Alles!«
»Dann sollten Sie vielleicht etwas vorsichtiger sein mit der Außentür«, warf Rebecca ein. »Die stand offen.«
Aus glasigen Augen sah Helmbrecht sie an. Zögernd glomm Erkennen auf. »Soll offen«, betonte er. Sein Blick
flackerte, löste sich von ihr, glitt über die Schulter des Restaurators hinweg.
»Möbius«, murmelte er.
Amadeo stutzte, drehte sich langsam um.
Möbius.
»Der Professor war einer unserer ersten Fälle«, murmelte Dr. Möbius, während er sein Stethoskop wieder in seiner Arzttasche verstaute. »Glücklicherweise ist er gleichzeitig einer derjenigen, bei denen die Krankheit bisher einen eher milden Verlauf nimmt.«
» Das ist ein milder Verlauf?« Amadeo grauste es bei der Vorstellung.
Möbius nickte. Im selben Moment, in dem der Mann den Raum betreten hatte, war Amadeo klar geworden, weshalb ihm der Name von Anfang an so bekannt vorgekommen war: Möbius war eine Zeit lang mit Helmbrechts Tochter liiert gewesen, und offenbar war der Kontakt zum Professor bis heute nicht abgerissen. Diesem Umstand verdankte Helmbrecht es dann wohl auch, dass er jetzt nicht in einem anonymen Krankenzimmer lag, sondern hier im Institut behandelt wurde.
Wie es aussah, hatte Möbius die Sache gut im Griff. Kaum dass er den Raum betreten hatte, hatte er dem Professor eine Injektion verabreicht, dazu genau abgezählte Tropfen aus einer kleinen Ampulle - das war offenbar Routine. Seitdem dämmerte Helmbrecht in seinem Lehnstuhl vor sich hin. In einer halben Stunde werde es ihm wesentlich besser gehen, hatte der Arzt Amadeo und Rebecca versichert.
»Sagen wir: ein vergleichsweise milder Verlauf«, korrigierte Möbius mit leiser Stimme. »Möglicherweise ist sein hohes Lebensalter von Vorteil, bestimmte Details des Stoffwechsels, die im Alter nur noch eingeschränkt funktionieren.
Jedenfalls hat er kein hohes Fieber, anders als andere Patienten, bei denen die ersten Symptome sehr viel später aufgetreten sind. Ich glaube nicht, dass sich das Fieber noch einstellen wird.« Er blickte auf. »Aber das ist natürlich nur eine These.«
»Und wann werden Sie mehr haben als eine These?«, fragte Rebecca. »Können Sie ihn überhaupt richtig behandeln?«
Möbius sah sie von oben bis unten an, und an seinem Gesichtsausdruck erkannte Amadeo, dass ihm gefiel, was er sah. Eifersucht spürte der Restaurator nicht - dazu wirkte der Mediziner einfach zu abgekämpft, mindestens ein
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