Das Babylon-Virus
War das Ringen um dieses Öl nicht der eigentliche Auslöser gewesen für diverse Golfkriege?
Aber was sich im Traum um seine Füße bewegt hatte, war kein Öl gewesen. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was er gesehen hatte, aber es war kein Öl . Und die Schrift, die geheimnisvolle Schrift …
Belsazar, dachte er. Eine Episode aus dem alttestamentarischen Buch Daniel, die sich Jahrhunderte nach dem Turmbau zu Babel zugetragen hatte: Belsazar, König von Babylon, hatte in seiner Festhalle zu Tisch gebeten und den Aperitif ausgerechnet in den heiligen Gefäßen servieren lassen, die seine Altvorderen aus dem Tempel Salomos geraubt hatten. Während der Feierlichkeiten aber war die geisterhafte Hand Gottes erschienen und hatte magische Zeichen an die Wand der Halle geschrieben: mene mene tekel u-pharsin. Worte unheilvoller Vorbedeutung. Die Tage deines Königtums sind gezählt , hatte der jüdische Prophet Daniel übersetzt. Gewogen wurdest du und für zu leicht befunden. Bis in die Gegenwart war umstritten, ob das die wahre Bedeutung war. Nicht ohne Grund galt ein Menetekel noch immer als undurchschaubare, unheilverkündende Warnung.
Den Babyloniern hatte sie offenbar genügt. In derselben Nacht noch war Belsazar von seinen panischen Hofschranzen ins Jenseits befördert worden. Wahrhaft aufmunternd.
Amadeo wusste, dass die Geschichte sich nur in Teilen mit der historischen Wirklichkeit deckte, und er glaubte auch zu wissen, wie sie den Weg in sein Unterbewusstsein gefunden hatte: Babylon, das Alte Testament - und Helmbrechts
todbringende Tafel von der Ausgrabungsstätte mit ihren nicht zu entziffernden Zeichen. Ein grauenerregender Cocktail.
So weit die logische Erklärung. Die Kälte, die sich in Amadeos Magen eingenistet hatte, konnte sie nicht vertreiben. Warum kamen diese Träume zu ihm? Was versuchten sie ihm mitzuteilen? Hatte sein Traum in der officina nicht einen unmittelbaren Bezug gehabt zu dem, was gleich darauf geschehen war: Helmbrechts Brief und seine Krankheit. Wir haben keine Zeit mehr.
Mit zusammengebissenen Zähnen starrte Amadeo auf die Asphaltbahn, die weitgehend frei war an diesem Morgen. Nein, er hatte keine Zeit mehr, keine Zeit für Träume und Spukgebilde. Welche albtraumartige Gefahr konnte bösartiger, gewaltiger sein als die Heimsuchung, mit der er in der Wirklichkeit konfrontiert war?
Er hatte die Leute auf der Raststätte beobachtet. Jeder Zweite trug inzwischen eine Atemmaske. Amadeo selbst und Rebecca verzichteten nach wie vor darauf. Der Restaurator war sich nicht sicher, woher er die Gewissheit nahm, aber er war immun, ohne jeden Zweifel. Und bei Rebecca … Ihre Hand hielt im Schlaf das Taschentuch umklammert. Den ganzen Morgen war sie am Schniefen und Niesen. Es war die Grippe bei ihr. Wenigstens hatte Dr. Möbius ihnen am Morgen noch den Namen der Substanz notiert, mit der er Helmbrecht behandelte. Helmbrecht … Beim Abschied vom Professor war schon unüberhörbar gewesen, dass die Wirkung des Mittels nachließ.
Amadeo versuchte, nicht daran zu denken. Möbius hatte ihnen zwar versichert, dass akut keine Lebensgefahr bestände, doch als der Restaurator sich nach der langfristigen Prognose erkundigt hatte, war der Blick des Arztes deutlicher gewesen als jede weitschweifige Erläuterung.
Helmbrecht würde sterben, und nicht er allein. Millionen, vielleicht gar Milliarden von Menschen würden sterben - wenn es Amadeo nicht gelang, der Spur der Babylontexte bis an den Beginn zu folgen, in die Zeit des Turmbaus vor Tausenden von Jahren.
Im Augenblick befand er sich auf seiner Zeitreise bei Johann Wolfgang von Goethe - ganze zwei hundert Jahre in der Vergangenheit. Angenommen, der Turmbau hatte sich vor fünftausend Jahren zugetragen - was eine vorsichtige Schätzung war -, mit wie vielen Texten, wie vielen Codes musste er dann rechnen? Goethe war im neunzehnten Jahrhundert eine Entschlüsselung gelungen, Einstein im zwanzigsten, Amadeo im einundzwanzigsten. Ein neuer Text also alle hundert Jahre, hochgerechnet? Fünfzig Texte, die meisten von ihnen mehrere tausend Jahre alt? Und die sollten alle noch erhalten sein in ihren Verstecken? Und die sollte Amadeo allesamt entschlüsseln ?
Die Vorstellung war aberwitzig. Warum in Gottes Namen ließ er sich auf ein solches Abenteuer ein?
Weil es die einzige Chance war. Das Einzige, was er tun konnte.
Amadeo umklammerte das Steuer. »In Gottes Namen«, murmelte er - und stutzte. Wenn Gott tatsächlich existierte: Woher wollte
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