Das Babylon-Virus
Amadeo sicher sein, dass er auf ihrer Seite stand?
Damals, vor ein paar tausend Jahren, hatte der alttestamentarische Herrgott zuletzt ein Einsehen gehabt und sich entschlossen, die Spezies, die er nach seinem eigenen Bilde erschaffen hatte, doch nicht vollständig auszutilgen. Er hatte ein Heilmittel gesandt. Doch wo blieb diese Einsicht heute?
Ein nagender Zweifel war in Amadeo erwacht: Was, wenn sie es diesmal übertrieben hatten? Sie - die Menschen? War nicht der Turm von Babel selbst eine Chiffre in diesem
Abenteuer, das vollgestopft war mit Codes und Verschlüsselungen? Wofür stand dieser Turm anders als für die unglaubliche Arroganz der Menschen, die davon überzeugt waren, alles erkennen, alles durchschauen, alles erreichen zu können? Aus eigener Kraft in den Himmel vordringen, Gott gleich werden zu können?
Wenn Amadeo einmal versuchte, sich in die Lage Gottes zu versetzen, was nun möglicherweise auch wieder mit einer kleinen Spur Überheblichkeit verbunden war, was sah er dann vor sich? Eine Spezies, die inzwischen vollständig aus der Bahn geraten und drauf und dran war, sich ihre eigene Schöpfung zusammenzuklonen mit den Mitteln der Gentechnik und virtuellen Spielereien. Eine Spezies, deren Angehörige sich übertrafen in ihrem kleinlichen Egoismus, wenn es darum ging, die globale Erwärmung zu verlangsamen, die Verschmutzung der Ozeane zu stoppen, die Vernichtung der Umwelt. Eine Spezies, die das Letzte heraussaugte aus dem Planeten, der ihr anvertraut war, ohne Rücksicht auf Verluste, ohne echte Gedanken an morgen oder übermorgen.
»Gut«, dachte Amadeo laut. »Aber schließlich hab ich damals auch selbst gesagt: Macht euch die Erde untertan . Da bin ich dann auch ein Stück weit selbst mit schuld. Also: wäre natürlich. Wenn ich Gott wär.«
Er schüttelte den Kopf. Wie er es auch betrachtete: An Stelle des Herrgotts würde er sich ganz genau überlegen, ob es sich lohnte, dem homo sapiens schon wieder eine neue Chance zu geben.
Die Menschheit war auf sich allein gestellt bei der Suche nach der Heilmittelreserve, die die vorausahnenden Babylonier irgendwo im Osten gebunkert hatten, hinter einer Pforte in den Bergen. Doch Amadeo tat gut daran, sich dem Rest der Menschheit nicht anzuvertrauen.
Er musste an die Szene am Morgen denken, als Rebecca
und er sich auf den Aufbruch vorbereitet hatten. Sie mussten zurück nach Rom, das war dem Professor so klar wie ihnen. Im Grab des früh verstorbenen August von Goethe auf dem cimitero acattolico wartete der nächste Text auf sie.
An dieser Stelle aber hatte es eine Meinungsverschiedenheit gegeben. Helmbrecht hatte fast schon den Hörer in der Hand gehabt, um das internationale Gremium zu informieren, in dessen Händen die Verwaltung des Protestantischen Friedhofs lag. Mit Mühe nur hatte Amadeo den alten Mann von dieser Idee abbringen können. Was hätte er den Leuten erzählen sollen? Goethe habe ihn aufgefordert, seinen Sohn auszugraben? Das Schicksal der Menschheit stände auf dem Spiel wegen der Seuche von Babel? Im besten Fall hätte man ihn für ein Grippeopfer gehalten, das im Fieberwahn lallte.
Wenn Rebecca und er eine Chance hatten, dann lag sie in der Geheimhaltung. Und schnell mussten sie handeln: Mit jedem Tag, jeder Minute griff die Krankheit weiter um sich. Menschen erkrankten, Menschen verloren ihre Sprache, Menschen starben an der Seuche.
Sie mussten eine Möglichkeit finden, auf das Gelände des Protestantischen Friedhofs zu gelangen, aber heimlich, ungesehen, im Schutze der Dunkelheit.
Kurz bevor sie die deutsche Hauptstadt erreichten, setzte Amadeo den Blinker und verließ die Autobahn. Rebecca wachte blinzelnd auf, als er an einer Ampel hielt.
»Schon am Flughafen?«, fragte sie.
»Caputh«, murmelte Amadeo. »Wir haben noch Zeit, bis der Flieger geht, und es liegt fast auf dem Weg. Ich will mein Handy holen.«
Aus irgendeinem Grund war ihm nicht wohl bei dem Gedanken. Er hatte Fernwaldt zwar kein Versprechen gegeben, dass er Amadeo nie wieder zu Gesicht bekommen würde, doch er konnte sich den Gesichtsausdruck des alten Mannes
nur zu gut vorstellen, wenn sein besonderer Gast plötzlich wieder auf der Matte stehen würde. Amadeo würde es so kurz wie möglich machen und hoffen, dass Fernwaldt nicht schon bei seinem Anblick der Schlag traf.
Wie auf ein Stichwort - oder einen Stichgedanken - kam ihnen ein Leichenwagen entgegen, als sie in Fernwaldts Straße einbogen. Unbehaglich folgten Amadeos Augen dem dunkel
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