Das Band der Wünsche: Roman (German Edition)
nicht besuchen. Das ist meine Strafe.«
»Das muss schlimm für Sie sein.« Tia hob die große Tasche vom Boden auf, die sie mitgebracht hatte, und nahm eine große, mit Bildern von Nadel und Faden bedruckte Blechdose heraus. »Hier. Das habe ich Ihnen mitgebracht. Es ist ein schwacher Trost, aber ich dachte, es würde Ihnen Freude machen.«
Mrs. Graham nahm die Dose entgegen. »Danke, meine Liebe. Ich wünschte, meine Augen würden mir noch erlauben zu nähen wie früher.«
Tia schüttelte den Kopf und legte einen Finger an die Lippen, um Mrs. Graham zu bedeuten, dass sie vorsichtig sein mussten. Sie schaute sich um, ob jemand sie beobachtete. Dann öffnete sie die Dose, damit Mrs. Graham die Lakritzmischung sehen konnte, die sie enthielt. »Ich vermute, dass so was hier nicht leicht zu bekommen ist.«
Mrs. Graham lächelte, als hätte Tia ihr die Sterne vom Himmel geholt. »Danke, meine Liebe! Sie ahnen ja gar nicht, wie sehr ich meine Lakritz vermisse!«
»Ich möchte Sie nicht in Schwierigkeiten bringen.« Tia beugte sich vor und flüsterte: »Deswegen habe ich die Süßigkeiten in dem Nähkästchen verpackt.«
»Machen Sie sich da mal keine Sorgen. Ich glaube kaum, dass es hier für mich noch schlimmer werden kann, oder was meinen Sie?«
Tia lachte. »Wahrscheinlich nicht.«
»Es ist nett von Ihnen, dass Sie gekommen sind, Tia.«
»Ich werde Sie wieder besuchen, das verspreche ich Ihnen. Aber es kann sein, dass ich bald von hier weggehe. Dann werde ich Ihnen schreiben. Ich möchte mit Ihnen in Kontakt bleiben. Und ich werde immer für Lakritznachschub sorgen. Versprochen.«
»Ich freue mich, dass Sie mich endlich Marjorie nennen können.«
Tia nahm ein Stück Lakritz aus der Dose und steckte es sich in den Mund. »Ich auch.«
Nach dem Besuch bei Mrs. Graham zog Tia sich bequemere Schuhe an und ging zu Fuß zur ringförmigen Uferpromenade. Sie machte zweimal die Runde, spähte durch den Nebel zur Thompson-Insel hinüber, schaute den Möwen zu, die im Abfall nach Futter suchten, und nickte Bekannten zum Gruß zu, die am Strand joggten, ihre Hunde ausführten oder Fahrrad fuhren.
Als Jugendliche hatten Tia und ihre Freunde ihr erstes Bier auf der Promenade getrunken. Dort hatten sie ihre ersten Joints geraucht, ihren ersten widerlich süßen Likör getrunken und Flaschendrehen gespielt. Hier auf der Sugar Bowl hatte Tia ihre Jungfräulichkeit verloren.
An jenem Freitagabend hatte Tia bereits vier Bier intus, als Kevin eine Linie Koks mit ihr geteilt hatte. Sie hatten sich mit tauben Lippen geküsst. Er hatte sie mit an den Strand genommen, zu einer Stelle, wo man von Felsen zu Felsen springen konnte, und einen besonders großen, flachen gesucht, den er angeblich kannte. Als sie ihn gefunden hatten, hatte Kevin wortlos seine Jacke auf dem kalten Stein ausgebreitet. Eine Geste, die so fürsorglich war, wie es die sechzehnjährige Tia noch nie erlebt hatte.
Jetzt musste sie eine andere Möglichkeit finden, um den kalten Boden zu bedecken. Sie konnte sich nicht darauf verlassen, dass ein Mann seine Jacke für sie ausbreitete, davon durfte sie nicht einmal träumen.
Die Beziehung mit Bobby hatte keine Zukunft. Es wurde Zeit, dass sie Schluss machte.
Obwohl der Himmel bewölkt war, setzte sie ihre Sonnenbrille auf, um ihre verheulten Augen zu verbergen. Sie hatte sich die ganze Zeit etwas vorgemacht. Darin hatte sie schließlich Übung.
Gott, sie liebte ihn, aber wie einen Bruder, nicht wie einen Ehemann. Wenn sie ihn heiratete, würden mit der Zeit ihre übelsten Seiten zum Vorschein kommen.
Nathan mochte sie vielleicht benutzt haben, aber sie hatte ihn wirklich geliebt. Wenn sie mit ihm zusammen gewesen war, waren alle Poren geöffnet gewesen, und das wollte sie noch einmal erleben. Diesmal allerdings mit jemandem, der sie genauso liebte wie sie ihn.
Aber dieser Mann konnte nicht Bobby sein. Tief in ihrem Innern hatte sie immer gewusst, dass sie, auch wenn er ihr noch so viel Sicherheit bot, in einem goldenen Käfig leben würde.
Mit zusammengekniffenen Augen ließ sie den Blick über die Menge schweifen, die sich bei Castle Island vor dem Sullivan’s drängte. Es roch nach Frittierfett. Bobby winkte, kam strahlend auf sie zu und nahm sie in die Arme. Sie hatte ihn angerufen und ihn gebeten, sich hier mit ihr zu treffen. Es war an der Zeit, sich zu entscheiden. Sie konnte sich von ihm ein Würstchen spendieren lassen, oder sie konnte ihm das Herz brechen und ihr eigenes auch ein bisschen.
Wenn
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