Das Band der Wünsche: Roman (German Edition)
Klienten Anerkennung verdienten. Manchmal dachte sie, die Beratungsstelle sollte Medaillen herstellen lassen, die die Konterfeis ihrer Klienten zeigten, und darunter die Worte: »Verleugnet eure Zukunft nicht!« Und die müsste man jungen Leuten anstelle von Christopherus-Medaillen aufs Armaturenbrett kleben.
Tia nahm einen Schreibblock zur Hand und ging ihre Checkliste für Mrs. Graham durch. Mahlzeiten. Hauspflege. Haushaltshilfe. Diese Ratschläge für Mrs. Graham und ihren demenzkranken Mann waren die offiziellen Gründe für ihren wöchentlichen Termin, aber Tia glaubte, dass die Zuwendung, die Mrs. Graham in dieser einen Stunde bekam, viel wichtiger war als die Liste.
»Also, Marjorie, dann wollen wir mal zur Sache kommen«, sagte Tia. Mrs. Graham gefiel es, wenn Tia diesen strengen Ton anschlug, denn das erlaubte es ihr, ebenfalls Tacheles zu reden. »Haben Sie noch mal darüber nachgedacht, Mr. G auf die Warteliste zu setzen?«
Mrs. Grahams Falten vertieften sich, als sie kopfschüttelnd antwortete. »Ihn in ein Heim stecken? Haben wir das nicht schon häufig genug besprochen?« Sie schloss kurz die Augen. »Nein. Niemand kann sich so gut um Sam kümmern wie ich. Danke, dass Sie so besorgt um mich sind, aber das kommt nicht infrage. Solange ich lebe, bleibt Sam bei mir.«
Jetzt hätte Tia eigentlich verständnisvoll nicken sollen, um Respekt und Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen, nur um anschließend die entsprechenden Broschüren aus der Schublade zu ziehen und ihre Klientin zu drängen, gemeinsam mit ihr das passende Pflegeheim für ihren Mann auszusuchen. Aufgrund ihres Alters, ihres hohen Blutdrucks und der schlechten Blutzuckerwerte war die Frau mit der Pflege ihres Mannes im Grunde völlig überfordert. Tia wusste, wenn sie Mrs. Grahams Handtasche öffnete, würde sie darin die Lakritzpastillen finden – selbst verordnete Stimmungsstabilisierer, die die arme Frau den ganzen Tag lutschte. Eigentlich müsste Tia, wenn sie den wöchentlichen Bericht über das Ehepaar Graham verfasste, »äußerst gefährdet« ankreuzen, aber wenn sie das tat, dann würden die beiden von jemandem Besuch bekommen, der mehr Macht besaß als sie; von jemandem, der Sam und Marjorie Graham so lange unter Druck setzen würde, bis sie aus dem Haus, in dem sie während ihrer gesamten Ehe gelebt hatten, ausziehen würden, um in ein Pflegeheim zu gehen.
Tia brachte es nicht übers Herz, die beiden voneinander zu trennen. Sie würde Mrs. Graham von jetzt an häufiger als einmal pro Woche in die Beratungsstelle bestellen, damit sie sie besser im Auge behalten konnte.
Nach Feierabend würde Tia auf direktem Weg nach South Boston fahren. Doch vorher tauschte sie ihre gestärkte Bluse gegen ein enges Red-Sox-T-Shirt aus, das sie in einer Schublade ihres Schreibtisches aufbewahrte, umrahmte ihre Augen mit einem dicken Lidstrich und schnallte den Gürtel, der ihre schwarze Jeans hielt, um ein Loch enger.
Freitagabends war es in Jamaica Plain einfach nicht zum Aushalten. Sämtliche Kneipen waren gefüllt mit politisch aktiven Männern, die in Tia Minderwertigkeitsgefühle auslösten und ihr auf den Busen glotzten, während sie ihr Vorträge über die Notwendigkeit von sozialem Wohnraum für Einwanderer hielten. Da konnte sie sich nur in ihr altes Viertel flüchten. Die Jungs in Southie glotzten ihr auch auf den Busen, während sie über die Einwanderer schimpften, die ihnen die Arbeitsplätze wegnahmen, aber sie taten wenigstens nicht so, als würden sie nicht glotzen. Und vor allem würde ein Kerl aus Southie reagieren, wenn man ihm einen Brief schrieb, in dem es um seine unbekannte Tochter ging – und sei es nur mit einem: »Du kannst mich mal!«
In der Park Street nahm sie die Red Line, stieg dann eine Station früher aus und ging den Rest des Wegs zu Fianna’s Bar zu Fuß. Sie vermisste das Tempo dieser Linie. In Jamaica Plain fuhr sie immer mit der langsameren Green Line, die die halbe Zeit oberirdisch auf Straßenbahnschienen dahinzockelte.
Meeresgeruch lag in der Luft. Auf dem breiten, parallel zum Strand verlaufenden Day Boulevard wimmelte es von Feierabendjoggern. Mit jedem Schritt, der sie ihrer Stammkneipe näher brachte, fühlte Tia sich entspannter. Sie wusste, dass die Nähe zum Meer die Immobilienpreise in Southie derart in die Höhe getrieben hatte, dass ihre Freunde es sich nicht mehr leisten konnten, sich dort ein Haus oder eine Eigentumswohnung zu kaufen, aber hier konnte sie auf eine Weise frei atmen, wie es
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