Das Band der Wünsche: Roman (German Edition)
erfüllen würde. Er war nicht gewillt, ihr mehr von sich preiszugeben als die Person, die einmal pro Woche in ihrer Wohnung erschien. Er brauchte es gar nicht auszusprechen – offenbar gab es verschiedene Schweregrade des Ehebruchs, und Nathan hatte nicht vor, ihr Einblicke in seine Vergangenheit zu gewähren. Dieses Recht gebührte ausschließlich seiner Frau. Tia wollte nicht, dass es ihrer Tochter so erging wie ihr. Eine solche Sehnsucht in sich zu tragen, machte einen fertig. Selbst jetzt noch fragte Tia sich, wie Nathan als Kind, als Jugendlicher und als junger Mann ausgesehen hatte, und wie er jetzt aussehen mochte. Das Unwissen gab ihr das Gefühl, als wäre etwas immer außerhalb ihrer Reichweite, als gäbe es etwas, dessen sie nicht würdig war.
Sie schleppte einen großen Holzstuhl in den Flur, der so schwer war, dass sie ihn die letzten Meter bis zum Wandschrank schieben musste. Sie stieg auf den Stuhl, nahm einen alten Schuhkarton vom obersten Fach und trug ihn zu ihrem Schreibtisch. Der Karton war bis oben hin voll mit alten Familienfotos, und zunächst wusste sie nicht, wo sie anfangen sollte. Das Album, das sie anlegen wollte, sollte Honor etwas über ihre Wurzeln erzählen. Tia wollte vorbereitet sein, wenn Honor eines Tages kam und Antworten verlangte.
Sie verglich ihre knochigen Schultern und ihr mürrisches Fotografiergesicht mit dem Körperbau und den Gesichtern ihrer Urgroßmutter und ihrer Großtanten. Sie stellte sich vor, wie Honor eines Tages die Fotos betrachten und versuchen würde einzuschätzen, was Tia ihr alles genommen hatte.
Tia schob die Familienfotos beiseite und nahm sich die Fotos von Honor vor. Dann wählte sie von jeder jährlichen Sendung eins aus, steckte die fünf Bilder in eine beigefarbene Mappe und holte ihre Jacke.
Als sie später wieder zu Hause war, schenkte Tia sich einen Whiskey ein und ging mit dem Glas und einer schmalen weißen Tüte ins Wohnzimmer. Nachdem sie den Whiskey zur Hälfte getrunken hatte, legte sie die Kopien der Fotos, die sie im Kopierladen gemacht hatte, in chronologischer Reihenfolge nebeneinander. Obenauf legte sie eine Kopie des Fotos, das gleich nach Honors Geburt im Krankenhaus aufgenommen worden war.
Lieber Nathan …
Tia legte sich eine Hand auf die Brust, um ihren Atem zu beruhigen. Seit damals hatte sie keinen Kontakt mehr zu Nathan. Sie fing den Brief immer wieder von vorn an, bis sie eine Fassung hatte, die ihrer Meinung nach zu der Szene passte, die sie vor ihrem geistigen Auge sah, wenn sie sich vorstellte, wie Nathan ihren Brief las. Unter ihrer Unterschrift notierte sie ihre Telefon nummer, ihre E-Mail- und ihre Postadresse. Nach kurzem Nach denken fügte sie noch »Arbeit« hinzu und darunter den Namen und die Adresse der Seniorenberatungsstelle.
Sie faltete den Brief zweimal und steckte ihn zusammen mit den Fotos von Honor in einen Umschlag. Der Brief würde in einem Haus ankommen, in das Nathan sie nie eingeladen hatte, abgeschickt aus einer Wohnung, die Nathan nie betreten hatte.
Sie legte den Kugelschreiber weg und fragte sich: Warum ausgerechnet jetzt?
Fünf Jahre lang hatte sie sich vorgestellt, wie es wäre, wenn Nathan Honor kennenlernte. Fünf Jahre lang hatte sie sich vor dem Einschlafen mit dem Fantasiebild von Nathan getröstet, der endlich zur Besinnung gekommen war und auf sie zugerannt kam: »Du hast mir so gefehlt! Ich will unser Kind sehen!« Seit Honors Geburt war sie in Versuchung gewesen, sich an Nathan zu wenden.
Also, warum jetzt?
Die einzige Antwort, die Tia auf die Frage einfiel, lautete: Warum nicht jetzt?
Sie klebte den Umschlag zu, frankierte ihn und verstaute ihn in ihrer Handtasche. Am nächsten Morgen würde sie Nathan ihr papiernes Kind schicken.
5. Kapitel – Tia
Sie hatte die Fotos vor einer Woche abgeschickt und immer noch nichts gehört. Nathan blieb in der Versenkung verschwunden. An dem Morgen trödelte sie so lange wie möglich in ihrer Wohnung herum in der Hoffnung, dass das Telefon jeden Moment klingeln würde.
Tia versuchte, sich einzureden, sie hätte Nathan die Bilder ohne jegliche Erwartungen geschickt, aber was hatte es für einen Zweck, sich etwas vorzumachen? Schließlich machte sie sich auf den Weg. Im Vorgarten lugten die ersten Krokusse aus dem Boden. Seit sie nach ihrem Einzug vor sechs Jahren die Pflege des Vorgartens übernommen hatte, setzte sie jeden Herbst Blumenzwiebeln und kaufte kistenweise einjährige Pflanzen, wenn sie Ende Juni im Sonderangebot waren. Und
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