Das Band der Wünsche: Roman (German Edition)
so war der Vorgarten den ganzen Sommer über voller Blumen. Wenn Katie ihr mal wieder vorwarf, sie würde zu oft Trübsal blasen, dachte Tia an all die Margeriten und Schwertlilien, die vor ihrer Haustür blühten.
Vergangenen Freitag hatte Katie ihr den Tipp gegeben, sie solle sich jeden Tag an etwas Positives in ihrem Leben erinnern. Wahrscheinlich wäre die gute Katie wenig begeistert, wenn Tia »Am Wochenende muss ich Katie nicht sehen« in die Positiv-Liste aufgenommen hätte. Dennoch ging ihr der Ratschlag nicht aus dem Kopf, und während sie die Green Street entlangspazierte, überlegte sie, welche Glücksfälle ihr das Leben beschert hatte. Nummer eins: Da ihre Mutter an der Brandeis University gearbeitet hatte, hatte sie es sich leisten können, ihre Tochter aufs College zu schicken, ein Umstand, den Tia erst zu würdigen gewusst hatte, als sie nach Abschluss der Highschool ein Jahr lang bei GAP gejobbt hatte. Sie hoffte inständig, dass sie nie wieder würde Jeans falten müssen.
Nummer zwei: Sie hatte ihr Studium abgeschlossen.
Nicht unbedingt ein Glücksfall: Zwei Monate nach Abschluss ihres Studiums hatte sie Nathan kennengelernt, der im Zusammenhang mit einem Forschungsauftrag Erhebungen machte über Menschen, die mit Senioren arbeiteten, und der sich das Seniorenheim, in dem sie damals arbeitete, als Forschungsprojekt ausgesucht hatte.
Also gut, Katie. Ich habe gute und schlechte Nachrichten. Glücksfall eins: Ich habe einen College-Abschluss. Glücksfall zwei: Ich habe mich in einen wunderbaren Mann verliebt, der ein guter Ehemann und Vater ist. Der Haken daran: Er ist mit einer anderen verheiratet.
Tias erste Klientin wartete bereits auf einer Holzbank in der Eingangshalle. Mrs. Graham beteuerte immer wieder, der wöchentliche Termin in der Seniorenberatungsstelle sei das Einzige, was sie die ganze Woche über aufrechthielt, und Tia hätte jedes Mal weinen können über die Einsamkeit der alten Frau. Tia war davon überzeugt, dass sie den alten Leuten viel mehr Gutes tun könnte, wenn sie sie mit zu sich nach Hause nähme, anstatt Berichte über sie zu verfassen. Sie würde ihnen einen bequemen Sessel anbieten, sich einen Fernseher mit einem riesigen Flachbildschirm anschaffen, damit sie sich alte Filme ansehen konnten, ihnen die neuesten Bestseller zum Lesen geben und sie mit selbst gebackenem Kuchen verwöhnen. Ihre Klienten brauchten so viel mehr, als sie ihnen in einer sechzigminütigen Beratungsstunde bieten konnte.
Die Seniorenberatungsstelle war in einer Kirche untergebracht und durch einen Seiteneingang zu erreichen. Der Vorraum diente als Wartezimmer. Es roch nach Essen, das in der Großküche zubereitet wurde, und nach dem Schweiß der Anonymen Alkoholiker und anderer Selbsthilfegruppen, die sich allabendlich in den Versammlungsräumen trafen.
»Hallo, Mrs. Graham «, sagte Tia. »Sie sehen ja richtig flott aus heute. Neues Kleid?«
»Ach woher, das Kleid ist bestimmt schon zwanzig Jahre alt«, antwortete Mrs. Graham sichtlich geschmeichelt. »Wollten Sie mich nicht Marjorie nennen?«
»Würde ich ja gern, aber Sie wissen doch, unsere Vorschriften …« Jede Woche brachte Mrs. Graham erneut ihr Bedauern darüber zum Ausdruck, dass es den Mitarbeitern der Beratungsstelle verboten war, ihre Klienten mit Vornamen anzusprechen. Tias Chefin befürchtete, es könnte ihnen als mangelnder Respekt ausgelegt werden, aber auf Mrs. Graham machte es genau den gegenteiligen Eindruck.
»Es macht mich traurig, dass mich niemand mehr mit meinem Vornamen anspricht.« Mrs. Graham presste die Lippen so fest zusammen, dass alle Farbe aus ihnen wich, und schüttelte den Kopf. »Sam ist inzwischen so schlimm dran, dass er ihn schon vergessen hat.«
»Aber Ihre Freunde sprechen Sie doch mit Ihrem Vornamen an, oder?«
»Freunde? Die meisten sind tot, und Sam zu pflegen, strengt mich so an, dass ich keine Kraft mehr habe, die paar, die noch leben, zu besuchen.«
Tia tätschelte Mrs. Grahams Hand. »Dann werde ich Sie ab jetzt Marjorie nennen, wenn wir allein sind, was halten Sie davon?«
»Ja, das würde mir gefallen.« Ihre Miene hellte sich auf, und sie wirkte gleich um Jahre jünger. Tia sah die Frau in ihr, nicht die Klientin. Mrs. Grahams hohe Wangenknochen und der spitze Haaransatz ließen erahnen, dass sie einmal eine schöne Frau gewesen war. »Es wird immer einsamer um einen herum, wissen Sie. Niemand interessiert sich für eine alte Frau. Wir sind unsichtbar.«
Tia war der Meinung, dass ihre
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