Das Banner des Roten Adlers
hinüber. Der Prinz verstand sogleich, nahm die Bank unter dem Fuß
des alten Mannes fort und half ihm beim Aufstehen.
Adelaide stand ebenfalls auf und der König gab ihr einen Kuss.
»Gute Nacht, Adelaide«, sagte er.
Er sagte auch Gute Nacht zum Prinzen, zum Grafen und zur Gräfin, dann ließ er sich
vom Kammerherrn
hinausbegleiten. Becky spürte,
wie ihr
die Schamesröte ins
Gesicht stieg, dennoch musste sie jetzt sprechen. »Eure Majestät«, begann sie. Der
König blieb stehen. Sie machte einen Knicks und sprach weiter. »Es tut mir so Leid,
ich war sehr unhöflich zu Ihnen und bitte Sie um Verzeihung.«
Sie wagte es nicht, ihn anzublicken. Nach einer Pause sagte er: »Gute Nacht, mein
Kind. Wenn du deine Mutter wieder siehst, überbringe ihr meinen Dank.«
Mit kleinen, wackeligen Schritten verließ er den Raum. Ein Diener schloss hinter ihm
die Tür.
Sechs Adler und Vogelleim
Zumindest
in
einer
Hinsicht
lag
Becky
richtig
mit
ihrem
Urteil
über
Jim:
Er
betrachtete sich auf eine hemdsärmelige, demokratische Weise als ebenbürtig mit
jedermann. Er hatte genauso Umgang mit Stallburschen und Taschendieben wie mit
Künstlern, Schauspielern und Aristokraten; aber einen Königshof hatte er bisher
noch nicht von innen gesehen. Er war fasziniert. Am Morgen ihres ersten Tages in
Raskawien wurde er ins Amtszimmer des Oberhofmeisters bestellt. Baron Gödel war
der Mann,
dem
die
Verwaltung
des
königlichen
Hofes
oblag.
Er
trug
die
Verantwortung für den reibungslosen Ablauf aller Zeremonien und Empfänge, für
die Besetzung
aller
Ämter
und
Chargen
und
für
die Führung
der
königlichen
Buchhaltung. Jim betrat neugierig sein Amtszimmer.
Der Baron
war
ein
Mann
in
den
Fünfzigern;
von
bleicher Gesichtsfarbe,
mit
Hängebacken, blassen Stielaugen und Zähnen, die wie bei einer Ratte nach hinten
gebogen waren. Er war so durch und durch hässlich, dass Jim zuerst Mitleid mit ihm
hatte. Dann bemerkte er den Blick in Gödels Augen: Der Mann wusste um die
Wirkung seines Aussehens und beobachtete sein Gegenüber, um seinen nächsten
Zug
vorzubereiten.
Ein
Anflug
von
Triumph
schien
sich
wie
ein
Fisch
an
die
Oberfläche zu wagen und verschwand sogleich wieder im trüben Wasser seiner
Augen. Dann sah Jim, welche Sorgfalt der Mann auf seine Kleidung verwendete: Der
maßgeschneiderte Rock saß wie angegossen, der Kragen war makellos weiß, das
pomadisierte schwarze Haar hatte er so frisiert, dass es an seinem Schädel zu kleben
schien. Die Eitelkeit des Mannes stand seiner Hässlichkeit in nichts nach, eine
interessante Beobachtung. »Herr Taylor«, sagte der Oberhofmeister, ohne Jim einzuladen, doch Platz zu nehmen. »Wie ich erfahren habe, hat Seine Königliche Hoheit
Sie in seine persönlichen Dienste aufgenommen. Selbstverständlich beabsichtige ich
nicht, mich in die Wahl Seiner Hoheit in irgendeiner Weise einzumischen. Allerdings
muss ich Sie davon in Kenntnis setzen, dass Sie keine Stellung bei Hof besitzen. Seine
Königliche Hoheit verfügt bereits über Personal für alle Ämter. Seine Dienerschaft ist
komplett;
über
seine
Sicherheit
wacht
Tag
und
Nacht
die Königliche
Garde.
Verstehen Sie, was ich damit sagen will? Sie haben bei Hof kein Amt, keine Stellung,
kein Salär. Seine Königliche Hoheit hat mir mitgeteilt, dass Sie bei der Dienerschaft
Quartier erhalten sollen. Das Zimmer, in dem Sie vergangene Nacht geschlafen
haben, gehört einem meiner Sekretäre. Wenn Sie bitte beim Kämmerer nachfragen,
gewiss lässt sich ein anderes Zimmer für Sie finden. Welche Pflichten Ihnen obliegen
und welche Entschädigung Sie für Ihre Dienste erhalten, liegt allein im Ermessen
Seiner Königlichen Hoheit. Ich verlange von Ihnen lediglich, dass Sie sich bei Hof
geziemend verhalten und nicht in Hofangelegenheiten einmischen. Einen guten Tag,
mein Herr.« »Guten Tag«, sagte Jim und ging.
So lief also der Hase. Nun, es hätte schlimmer kommen können. Gödel hätte ihn mit
tausenderlei lästigen Pflichten beschäftigen können, die ihm keine Zeit für seine
eigentliche Aufgabe gelassen hätten. Aber worin bestand diese eigentlich? Der Prinz
wusste es nicht. Wie ein Kind hatte er sich vertrauensselig mit der erstbesten ihm
Freundschaft
anbietenden
Person
verbunden, gerade so
wie er auch
Adelaide
geheiratet hatte, weil sie lieb zu ihm war. Von Jim versprach er sich Schutz, mehr
noch Auskunft darüber, wovor er eigentlich geschützt werden musste und wie das
geschehen sollte. Jim fühlte sich nicht nur wegen Adelaide zu dieser
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