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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Aufgabe
verpflichtet. Er mochte den Prinzen einfach. Der Mann verhielt sich ja wie ein
ahnungsloses Kind, aber eines, das seine Pflicht tun wollte. Er war wie der Pierrot in
der Komödie: ein weltfremder Träumer, der nur an
die Liebe denkt
und
den
Menschen nichts Arges zutraut. Folglich fiel Jim die Rolle des gewieften Dieners zu,
der seinen Prinzen aus allen Gefahren retten musste.
    Alles in allem war das keine schlechte Rolle. Dazu musste Jim aber erst einmal das
Terrain sondieren, schließlich war er hier nicht zu Hause. Am Ende eines langen
Tages, in dessen Verlauf er zuerst mit dem Kämmerer verhandeln musste, ehe er ein
schmales
Zimmer im
Dienstbotentrakt
-
genau
über Beckys
bequemerem,
ein
Stockwerk tiefer gelegenem Quartier -erhielt, entschied sich Jim für einen ersten
Rundgang. Im schicken Tweedanzug mit dunkelgrüner Krawatte und Schirmmütze
schlenderte er in die Stadt. Eschtenburg war ein sehenswerter Ort: halb böhmisch
und halb deutsch, halb mittelalterlich und halb barock, in manchem schon modern
und funktional angelegt, ansonsten aber ein planloses Durcheinander. Am Westufer
des Flusses befanden sich das Residenzschloss und die staatlichen Behörden, die
Banken, Botschaftsgebäude und Hotels, die Universität und der Dom. Am Ostufer
drängten sich die Häuser der Altstadt am Fuß des Felsens, über dem die Adlerfahne
wehte. Ein so ungesundes, baufälliges Viertel hatte Jim nirgendwo sonst in Europa
gesehen - jedenfalls nicht seitdem die Elendsquartiere im Londoner Seven Dials
abgerissen worden waren, um dem neuen Bahnhof an der Charing Cross Road Platz
zu machen. In den ältesten Teilen gab es nicht einmal Straßen: Die Häuser standen
wild kreuz und quer. Nach einer alten Sage schubsten sich die Häuser nachts
untereinander, so dass sie am Morgen ganz woanders standen. Nach einer anderen
Sage verhexte der vom
Fluss
aufsteigende Nebel
die Dinge,
mit
denen
er in
Berührung kam: Statuen lösten sich auf, Häuser bekamen andere Namen, über
Türen und Fenstern erschienen neue Wappen.
    Jim wollte eigentlich über eine der schönen alten Brücken gehen und ausprobieren,
ob man sich hier tatsächlich verirren konnte, doch ehe er weit gekommen war,
lockte ihn
ein
appetitanregender
Geruch
von
Bratwurst
und
Bier zu
einem
Kellerlokal im Studentenviertel. Musik drang aus den Räumen, eine Blaskapelle
spielte schmissige Polkas. Die Versuchung war zu groß, als dass er widerstehen
konnte. Er öffnete die Tür und stieg die Stufen hinab.
    Die Gäste des engen und verräucherten Kellers waren fast ausschließlich Studenten.
Alle trugen eine uniformähnliche Kluft, einen Gehrock mit Schulterklappen sowie
Tressen am Aufschlag als Zeichen der Burschenschaft, der sie angehörten. An die
achtzig junge Männer drängten sich in einem Raum, der für dreißig gemütlich
gewesen
wäre.
Auf
einer kleinen
Bühne spielten,
schwitzend
und
mit
roten
Gesichtern, die Musiker einer Blaskapelle. Durch den Zigarrenqualm sah Jim genügend Geweihe und ausgestopfte Tiere, um einen kleinen Wald zu bevölkern.
    Er zwängte sich in eine Ecke, bestellte eine Bratwurst mit Sauerkraut und einen Krug
Bier. Wie sich herausstellte, war es der beste Platz in Eschtenburg, um sich ein Bild
von der politischen Lage zu machen, denn keine drei Schritt von ihm entfernt
lieferte man sich heftige Debatten.
Allem
Anschein
nach
ging
es
um
deutschen
Frage.
Ein
Student
die
königliche Familie und
ihre Haltung
zur
    in
einem
Uniformrock
mit
rot-schwarzen
Schulterklappen schlug immer wieder auf den Tisch und setzte sich mit rauer,
monotoner Stimme gegen den Lärm ringsum durch. Seine Augen funkelten wild,
sein Gesicht war blass und in den Mundwinkeln hing ihm der Geifer -alles das
deutete auf einen Burschen, mit dem Jim nicht unbedingt seine Zeit verbringen
wollte. Er erhielt anfeuernde Zurufe von den Rot-Schwarzen, während die kleinere
Gruppe der Grün-Gelben gegen sie anschrie. Jim hörte angestrengt hin, um herauszubekommen, worüber sich der Sprecher so ereiferte. Ein Schankmädchen brachte
ihm sein Bier in einem irdenen Krug mit Zinndeckel, der gut und gerne eine halbe
Gallone fasste. Er hob ihn und wollte gerade trinken, als er einen solchen Stoß in
den Rücken bekam, dass ein Gutteil der Bierschaums überschwappte und auf dem
mit
Sägespänen
bedeckten
Fußboden
landete.
»Oh,
Verzeihung,
mein
Herr.
Verdammt noch mal, Reiner, kannst du denn nicht mal Platz machen. Mein Herr,
erlauben Sie bitte, dass ich Ihnen noch ein Bier bestelle?«
    Jim drehte

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