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Das Banner des Roten Adlers

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Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Auge zugezogen?«
    Jim berichtete dem Grafen von der Rauferei im Bierkeller und der alte Herr gluckste
vor Vergnügen und hieb sich mit der Faust in die flache Hand. »Weiß Gott«, sagte er,
»ich wäre gern mit von der Partie gewesen! Diesen Kampfgeist könnten wir hier bei
Hof gut gebrauchen, Burschen wie den jungen von
    Gaisberg. Ich kannte seinen Vater gut. Wir haben so manches Mal miteinander
gezecht.« »Ich habe daran gedacht«, flocht Jim ein, »mit Hilfe des Richterbundes so
etwas wie eine private Wachtruppe aufzustellen. Eine zivile Leibgarde für den
Prinzen und die Prinzessin.«
»Eine ausgezeichnete Idee. Aber sagen Sie Gödel nichts davon; er würde das sofort
verbieten. Ich wäre gern noch einmal jung, Taylor. Dann würde ich mich, ohne viel
zu überlegen, Ihrer privaten Wachtruppe anschließen ...«
    Jim gewann diesen alten Haudegen immer mehr lieb; hinter seinem Poltern verbarg
sich Schläue und hinter seiner Grimmigkeit ein warmes Herz. Der Graf war kein
vermögender Mann, das hatte Jim herausgefunden. Sein Familienbesitz war immer
mehr zusammengeschmolzen. Mittlerweile musste er, was höchst ungewöhnlich
war, allein von seinem Botschaftergehalt leben. Er war nicht nur beim Prinzen
geblieben, weil die Gräfin die Prinzessin in der Hofetikette unterrichtete, sondern
weil Rudolf ihm eine Stellung in seinem persönlichen Gefolge überlassen hatte.
Trotzdem war der Graf nicht geneigt, mehr über Prinz Leopold zu erzählen. Jim
musste anderswo nach Auskünften suchen. Gegen Ende der Woche streifte er durch
einen Teil des Schlosses, den er noch nicht kannte: die Gemäldegalerie.
    Eine halbe Stunde lang schaute er sich Darstellungen vergessener Schlachten und
unverständliche mythische Szenen an. Übergewichtige nackte Göttinnen und muskelbepackte Helden zeigten sich in theatralischen Posen, die beim Publikum des
Victoria
Theatre in
London
gut
angekommen
wären,
denn
dort
liebte man
menschliche
Gefühle
in
unverdünnter
Form.
Auch
die Porträts
vergangener
Monarchen waren zu bewundern: so der geisteskranke König Michael mit seiner
Schwanenbraut, bei dessen Anblick Jim kichern musste; ganz oben in der dunkelsten
Ecke der Galerie hing das Bild eines jungen Mannes in Husarenuniform, der Rudolf
ähnlich sah. So groß war die Ähnlichkeit, dass Jim einen Ausruf des Erstaunens nicht
ganz unterdrücken konnte. Das hörte der Kustos der Galerie, ein älterer Herr, der an
einem Tisch grafische Blätter sortierte. Neugierig geworden, kam der Mann näher.
»Der verstorbene Prinz Leopold«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Ein nicht
unbedeutendes
Beispiel
für
die Kunst
des
großen
Porträtisten
Winterhalter.
Möchten Sie es sich aus der Nähe anschauen?« Er schaffte eine hölzerne Trittleiter
aus einem Erker herbei, damit Jim hinaufsteigen und das Konterfei von Rudolfs
totem
Bruder
studieren
konnte.
Bei
näherer
Betrachtung
verblassten
die
Ähnlichkeiten; Rudolfs träumerischer Zug schien bei Leopold nur Schwäche, und
wahrscheinlich war dieser Zug im wirklichen Leben sogar noch ausgeprägter, denn
gewiss hatte der große Winterhalter seinen Auftraggeber in einem vorteilhaften
Licht
dargestellt.
An
der
Linie seiner
Lippen
konnte man
einen
Hang
zur
Verdrießlichkeit erkennen, und ein merkwürdig hängendes Augenlid verlieh ihm
einen Blick, als wollte er dem Betrachter verstohlen zuzwinkern. Aber er besaß
einen
gewissen
Charme und
sicherlich
hatte er für
sein
Grübchen
im
Kinn
Komplimente bekommen.
    »Was
geschah
mit
Prinz Leopold?«,
fragte Jim.
Der alte Kustos
machte eine
wissende Miene und blickte sich vorsichtig um. Vielleicht hatte seit Monaten niemand mit ihm gesprochen oder er war ein altes Klatschmaul. Jim stieg die Leiter
wieder hinab, damit der alte Mann vertraulich mit ihm sprechen konnte. »Tatsache
ist«, raunte der Kustos, »dass er
sich
unglücklich
verheiratet
hatte. Mit einer
spanischen
Schauspielerin,
glaube
ich;
eine
Spanierin,
alles
andere
als
standesgemäß. König Wilhelm war außer sich vor Zorn. Die Frau wurde aus der
Hofgesellschaft verbannt - und verächtlich behandelt, wie ich vermute. Manche
würden es sogar grausam nennen. Wie sich die Dinge weiterentwickelt hätten, weiß
ich nicht, Leopold war ja der Kronprinz; aber dann kam es zu diesem Jagdunfall, bei
dem er starb. Die Affäre wurde vergessen. Sein jüngerer Bruder war sehr viel
verlässlicher - der arme Prinz Wilhelm, Sie kennen sein Schicksal. Als nun Prinz Rudolf ... Aber alles Weitere können Sie sich denken.« Jim

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