Das Banner des Roten Adlers
hatte den Eindruck, als
öffnete sich plötzlich eine Tür in seinem Kopf. Jeder bei Hof, vom König bis zur
letzten Küchenmagd, muss die Parallele sofort gesehen haben: Erst hatte Leopold
weit unter seinem Stand geheiratet und nun Rudolf.
Und natürlich die nächste Offenbarung: die Spionin. Die Frau im Alhambra-Theater.
»Aha. Vielen Dank für Ihre Auskünfte. Ich bin Ihnen sehr verbunden.«
Er warf einen letzten Blick auf Leopold und nahm die prägnante Schwäche seiner
Gesichtszüge in sich auf. Kein Wunder, dass niemand über ihn sprechen wollte.
Welche Geheimnisse mochte das Schloss sonst noch verbergen?
Der alte König
verbrachte
viel
Zeit
in
Adelaides
Gesellschaft.
Becky,
die als
Dolmetscherin Adelaide wie ein Schatten folgte, beobachtete staunend, wie der
König mit der Prinzessin am Arm in der Morgensonne auf der Terrasse spazieren
ging oder neben ihr saß, während sie einen kleinen, von Hunden gezogenen Wagen
über die Kieswege lenkte. Es schien so, als wollte er gegenüber Adelaide gutmachen,
was er an Prinz Leopolds Ehefrau verbrochen hatte; vielleicht hatte er sie aber auch
einfach ins Herz geschlossen. Auf jeden Fall behielt er sie ständig in seiner Nähe.
Als Adelaides Aufenthalt in Raskawien in die zweite Woche ging, stimmte der König
zu, dass es Zeit für eine offizielle Bekanntgabe der Heirat sei. Für den Abend des
nächsten
Tages
lud
er
alle
führenden
Politiker,
Großgrundbesitzer
-
die führenden
Kreise Raskawiens
-
Kirchenmänner
und
sowie die
wichtigsten
Botschafter zu einem Empfang ins Schloss ein. Da die Gerüchteküche der Stadt
brodelte, wie Jim es vorhergesehen hatte, war alle Welt neugierig. Am Abend des
Empfangs herrschte im Ballsaal des Schlosses drangvolle Enge. Im Abendanzug und
mit einer Pistole in der Tasche beobachtete Jim vom Rand des Saals aus das
Geschehen. Die Situation war ungewöhnlich: Eigentlich trug der Hof noch Trauer,
doch überall spürte man eine unterschwellige Erwartung und Aufregung. Als der
König mit seinem Gefolge den Saal betrat, richteten sich alle Augen auf die blasse,
schmale Adelaide in ihrem eleganten schwarzen Kleid, den Prinzen neben sich und
den König gleich dahinter. Becky, die nur einen Schritt weit entfernt stand, sah
dieses Meer von Augen und hatte Lampenfieber an Adelaides Stelle.
Der alte König ging zwar ohne Hilfe, doch den Anwesenden entging nicht, wie viel
Mühe ihn das kostete. Er stellte sich auf ein teppichbedecktes Podium und sprach
laut und deutlich, wenngleich er ein Zittern in seiner Stimme nicht unterdrücken
konnte. »Meine lieben Raskawier! Sehr verehrte Gäste! In dieser Zeit der Trauer
mag ein solcher Empfang ungewöhnlich, um nicht zu sagen unschicklich, erscheinen,
doch das sind keine normalen Zeiten. Wir leben in einer unruhigen Welt, große
Veränderungen stehen uns bevor. Wir sind Zeugen eines tief greifenden und unsere
alten Grenzen überschreitenden Wandels in Wissenschaft, Handel und Industrie.
Doch drei Dinge halten unerschütterlich allen Veränderungen stand: der Fels von
Eschtenburg, der Rote Adler und die heiligen Bande der Familie.
Mein Sohn Wilhelm ist uns genommen worden. Doch mein Sohn Rudolf hat sogleich
die Lücke gefüllt, die sein Bruder hinterlassen hat. Mitten im Kummer, der uns alle
umfängt, hat er mir eine große Freude gebracht, die ich nun mit Ihnen teilen
möchte. In den modernen Zeiten mit ihrem raschen Wandel müssen auch wir uns
bewegen, wenn wir mit den veränderten Verhältnissen Schritt halten wollen. Wir
müssen fliegen wie ein Adler. Wie der Rote Adler! Mein liebes Volk, meine lieben
Freunde, ich habe heute frohe Kunde für euch alle: Mein Sohn Rudolf hat geheiratet.
Die Hochzeit wurde in aller Stille begangen. In Anbetracht des schweren Verlustes,
der uns getroffen hat, schien uns jede öffentliche Festlichkeit unangemessen. Doch
die Freude im kleinen Kreis, die nun auch der Öffentlichkeit bekannt ist, kennt keine
Grenzen. Adelaide ...«
Becky stand direkt hinter Adelaide und dolmetschte leise. Bis hierher war alles
einfach gewesen, doch
nun kam eine
schwierige Passage, denn der alte Herr
erlaubte sich ein Wortspiel mit Adelaides Namen. »Er sagt«, erläuterte sie, »dass es
nicht auf die standesgemäße Geburt ankommt, wenn man den Adel des Herzens
hat. Du, Adelaide bist adlig, weil du Herzensadel besitzt. Und nun aber rasch - du
musst vortreten!« Der König streckte Adelaide seine zitternde Hand entgegen.
Adelaide warf Becky einen bangen Blick zu, in den sich eine Spur
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