Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
Vom Netzwerk:
womöglich, auf den Spuren Gandhis wandelnd. Der König besuchte den Weisen, das war eine mögliche Version, Alexander der Große und Diogenes in seinem Faß, der den königlichen Besuch kaum mit Andeutungen der Höflichkeit eher hin- als annahm. Weil ich von der Unterredung der Herren kein Wort verstand, blieb ich Betrachter. Der König bekam jetzt etwas geradezu Mütterliches. Er blickte mit Zärtlichkeit und Rührung auf den Minister, der sich kaum zu einem Wort erweichen ließ und scheinbar wehrlos im Sessel lehnte. Jeder durfte zu ihm hereinkommen, drückte seine Haltung aus, und wenigen würde ihr Besuch, von dem Glas Tee abgesehen, etwas nützen. Durch die unterschiedliche Erscheinungsform der beiden ließ sich Harmonie hier nicht erzielen. Aber der König schien den ästhetischen Konflikt in seiner schmelzenden Zuwendung eben doch zu suchen. Sah ich richtig, daß der Minister unter der königlichen Visite ein wenig litt?
    Wer hier Diener, Beamter, Polizist, Parteimitglied, örtlicher Amtsträger war, blieb unsichtbar. Alle Männer sahen gleich aus und lungerten in gleicher Stumpfheit herum. Dem stand die Begleitung des Königs gegenüber, seine beiden Soldaten in ihren Uniformen, die sie nach der Striktheit des republikanischen Gesetzes eigentlich gar nicht tragen durften, sein Page und Kammerherr, der auch jetzt stolz und dreist um sich blickende Rajpute, und die exotische Monstrosität, das europäische zweiköpfige Kalb, in den Hof von Sanchor offenbar fest eingegliedert. Wollte er dem Minister zeigen, daß er gerade durch seine Entmachtung, durch die Aufkündigung des Vertrags- und Rechtsverhältnisses zwischen Republik und Monarchie unangreifbar geworden sei? Daß sein Königtum ungebrochen und ungerührt fortbestehe, seitdem sich die Republik der Mittel begeben hatte, auf ihn als eine Art konstitutionelle Person einzuwirken?
    Auch beim Aufbruch beschwor der König den alten Mann, sitzen zu bleiben. Er gewährte ihm als Privileg, was der andere ohnehin als sein Recht empfand. Die Begleitung des Königs hatte gedrängt zwischen den Betten gestanden. Das häßliche Zimmer mit seiner abblätternden Farbe war überfüllt. Nun eilten wir wieder davon. Wieder war dies Aufrauschen des Aufbruchs um den König, als öffne ein riesiger Vogel die Schwingen, recke sich, schüttele sich und setze zu einem geräuschlos gleitenden Flug an. Im Jeep gab ich meinem Erstaunen über die Lebensumstände des Ministers, den der König selbst mir als Zentrum der Macht geschildert hatte, Ausdruck: Wieviel von der Kampfzeit und den Gründungstagen der Republik doch noch lebendig sei in den indischen Parteien.
    »Ja, sie haben sich wenig geändert«, sagte der König. Dies Haus hier diene dem Minister freilich nur für Besuche in seinem Wahlkreis, dafür sei es eigens hergerichtet. Natürlich besitze der Mann eine große, moderne Villa, die von Stacheldraht umgeben und von wolfsartigen Hunden bewacht sei. Dorthin kämen allerdings nur die Leute seiner engsten Umgebung. »Es ist ein Ritual für ihn, hier zu empfangen. Alle wissen, wie es sich wirklich verhält und daß ihm seine Frau nicht den Linsenbrei auf dem Kerosinkocher bereitet.«
    Der Besuch erfüllte ihn mit der äußersten Befriedigung. Schwer war für mich zu sagen, wo er sich wohler gefühlt hatte, beim Bad in der Menge der Königstreuen oder zwischen den Bettkanten unter der Neonröhre des Ministers.
    Wir hatten die wirren Häuser- und Hüttenansammlungen, die einen großen Teil der Stadt Barmer ausmachten, hinter uns gelassen und fuhren der nach einem langen Tag im Sinken begriffenen Sonne entgegen, nun wieder in kahlem, wüstenhaftem Land. Für den König sollte diese Reise noch eine wichtige Station haben, vielleicht die wichtigste. Der lange Schleier seines Turbans wurde vom Fahrtwind ergriffen. Wer uns entgegenkam, sah, daß dieser Jeep einen bedeutenden Mann fuhr. Eile hatten wir bisher nicht gekannt, nur Unerschrockenheit gegenüber langen Entfernungen und Sorglosigkeit gegenüber dem Durchgeschütteltwerden, aber nun ging es spürbar darum, vor dem Verschwinden der Sonne ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Der kleine soldatische Faun fuhr wie der Teufel, mein turbangepolsterter Kopf schlug unablässig an das Wagendach.
    Der König befand sich, was die Länge eines Tages anging, im Zwiespalt. Einerseits war er der erste, der die vom Ritus der Religion bestätigte Rhythmik eines Tages zwischen Sonnenaufgang und -untergang als unüberbietbar harmonisch feierte,

Weitere Kostenlose Bücher