Das Beben
andererseits waren ihm die Tage meist zu kurz. Der Tag war wie ein Diener, dem man vieles dringende aufgetragen hatte und der unversehens Bauchschmerzen bekam und sich hinlegen mußte, oder wie ein Heer, das zu großen Eroberungen ausgezogen war, dessen Führer sich aber plötzlich uneins wurden und eine unnötige Rast erzwangen. Der König fand sich oft in der Lage, am Tagesende die erhobenen Hände sinken lassen zu müssen und die Nacht unverrichteter Dinge zu empfangen.
Aber heute war der Tag gehorsam. Die Sonne hielt den Atem an, bis Seine Hoheit zur Stelle war, zur schönstmöglichen Stunde. Rotgoldener Lichtschein vermählt sich besonders vorteilhaft mit Sand und pulverisierter Erde. Was eben nur staubig und unfruchtbar war, begann schwer und warm zu strahlen. Vor einem sandbestreuten Hügel hielten wir an. Der König schritt voran. Sein Turbanschleier war seine Fahne. Seine Begleiter kannten den Ort nicht, zu dem er strebte. Daß es nicht eigentümlich organisch geformte Felsen waren, die sich nach einer Weile aus einer Geländefalte erhoben, sondern die Trümmer eines Tempels, erkannte ich erst, als wir davor standen, denn der Sand und der Sandstein, aus dem sie gemeißelt waren, hatten im Sonnenuntergang dieselbe Farbe angenommen. Die noch nicht eingestürzten Tempeltürme waren schwammartig wie Morcheln, die erhaltenen Teile von höchster Feinheit der Steinmetzarbeit. Der Tempel wirkte wie ein hölzerner Schrein, den Termiten ornamental vollständig zernagt hatten. Kasten schob sich unlösbar in Kasten, ein ineinandergestauchtes Kasten- und Kästchensystem war dieser Bau, er wirkte eher gesägt als gemeißelt, er war ein Destillat, zusammengepreßt und unter Überdruck mit Götter- und Tänzerinnenleibern gestempelt.
Das Sanktuarium war leer. In seinem Schutz wuchsen schwache, graue Pflanzen. Vogelkot sprenkelte den Stein, der von keinem Priester mehr gewaschen, besprengt, mit Blütenblättern bedeckt und beräuchert wurde. Die Tempelreste mochten tausend Jahre alt sein. Was von ihnen noch stand, hielt höchsten Ansprüchen an Kunstfertigkeit und Handwerksvirtuosität stand, aber ich durfte sicher sein, daß es nicht oder nicht ausschließlich antiquarische Interessen waren, die den König nach seinem langen, mühevollen Tag in die Einsamkeit hatten ziehen lassen.
Der Jung-Rajpute nannte den alten Namen des Ortes. Kirundi, eine Stadt, habe einst hier gestanden. In seinem vergnügten, grundsätzlichen Lebenshochmut verachtete er alles Abgestorbene, das es nicht geschafft hatte, sich so kräftig durchblutet zu bewahren, wie er selbst es war. Wenn Städte untergingen, konnte es mit ihnen nicht so weit her gewesen sein. Im Untergang einer Stadt offenbarte sich stets auch ein bis dahin verborgener Makel. Vom Standpunkt der Ehrfurcht vor Heiligtümern her gab ihm seine Religion sogar recht. Von Purhoti wußte ich, daß beschädigten Idolen keine Verehrung mehr zukam. Sie wurden begraben, wie man einen heiligen Mann begrub, und hatten mehr an Schonung nicht zu erwarten. Über diesen Tempel hier war gewiß schon vor Hunderten von Jahren die Entweihungsformel gesprochen worden, mit der die Brahmanen den göttlichen Geist baten, unbrauchbare oder zerstörte Idole wieder zu verlassen. Für den Jung-Rajputen war Kirundi in seiner hölzernen Steinigkeit nichts weiter als ein Steinhaufen. Jeder aus Beton und billigen Kacheln um knallbunt lackierte Götterpuppen roh zusammengehauene neue Tempel überragte Kirundi um ein Vielfaches an Heiligkeit und Wirklichkeit.
Die beiden Soldaten, der lange Dünne und der kleine Zähe, standen mit ausdruckslosen Mienen in einer gewissen Entfernung. Der König ließ jetzt seine Entourage hinter sich. Es gab Regionen, die ein König ohne Gefolge betrat; das wartete dann in sicherem Abstand. Auch zu mir sagte er kein erklärendes Wort, obwohl er sich doch leidenschaftlich gern in historischen Erklärungen erging. Ansehen durfte ich mir die edlen Reste von Kirundi, die in ihren Kästchen immer noch verdreht tanzenden Götterbegleiterinnen mit ihren Ballonbrüsten und ihren schwellenden Schenkeln, und mir zurechtlegen, wie diese strotzende Körperlichkeit ins Religiös-Geistlich-Metaphysische zu transponieren sei. Auch der Westen hat, beim Hohen Lied etwa, Erfahrung in solchen Übungen, die allerdings immer eine gewisse Anstrengung enthalten.
Der König ging in großen, langsamen Schritten in das Hügelgelände hinein, in dessen Schoß der Tempel lag. Unter diesen Hügeln war eine
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