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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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die Einkünfte dieses Staates von achtzig Millionen Menschen. Ich wunderte mich, daß der König sich einem solchen Mann gegenüberstellen wollte, der allein durch sein Amt die ganze alte Königsherrlichkeit von Sanchor zu pulverisieren imstande war. Kein Mogul hatte in Delhi so viel Macht besessen wie dieser Mann. Staat, Bürokratie, Administration, Polizei hießen die zum größten Teil nicht richtig sichtbaren Mächte, die sich an die Stelle der bunten, schleierumwehten Turbane gesetzt hatten. Von dorther war, so schien mir, ein Sog zu spüren, der alles farbige, goldene Fürstenwesen in ein schwarzes Loch zog, in dem es grau wurde und rasend schnell zerfiel. Aber der König war mutig. Sein Königtum bedurfte nach seiner Überzeugung nicht der Schonung, sosehr es auch im richtigen Milieu, dort wo es erkannt und gefeiert wurde, aufblühte. Aber da dieses Königtum eine objektive Tatsache war, die sich seit dreihundert, oder sagen wir: vielen Generationen, durch die Geschichte zog, war es auf Zustimmung und Anerkennung im Grunde nicht angewiesen. Nicht der König von Sanchor mußte sich den prachtvoll gezierten Kopf zerbrechen, wie er vor dem Revenue-Minister von Radjastan bestehe, sondern der Minister mußte, in seiner aufgeblasenen Allmacht, zeigen, wie er vor dem König stand. Ob es den Bundesstaat Radjastan so lange geben werde wie das Reich von Sanchor, war ohnehin ungewiß. Das gestaltete sich und gestaltete sich um und konnte doch die Substanz, aus der es gemacht war, nicht verleugnen.
    Abfallhaufen, kauende Kühe, hupende Autos, ein Geschlinge von Stromleitungen über den Straßen, das war Barmer. Der Minister wohnte in einer Seitenstraße, die viele nach draußen geöffnete Werkstätten säumten. Seine Wohnung lag, wie einst die Robespierres, oberhalb einer Schreinerei. Am Straßenrand lagerten duftende Bretterstapel, innen kreischte eine Säge. Der Boden war schlammig. Es war hier wohl ein Wasserrohr geplatzt, das sich übelriechend unablässig auf die ungepflasterte Straße ergoß. Neben der Haustür warteten Männer in weißen Hemden, die uns sofort lauernd ins Auge faßten, wie wir da bunt aus dem Jeep hervorquollen. Wenn der Minister sich bewachen ließ, dann von Leuten in Zivil. Die Treppe zu ihm hinauf war steil und schmal wie in einer alten Scheune, der türkise Anstrich war fettig verschmiert und verkratzt. Oben gab es ein unwirtliches Zimmer mit einer Neonröhre, die über ramponierten Stühlen strahlte, dort drängten sich noch mehr Männer, stumm, in weißen Hemden an den schmalen Oberkörpern, in den Ecken waren manche in leise Gespräche versunken. Es herrschte ein schleichendes Kommen und Gehen. Niemand erhob sich, als der König eintrat, der vollständig ungezwungen war und sofort der nächsten Tür zustrebte. Hier empfing der Minister.
    Er saß mit seiner Frau in einem engen Schlafzimmer. Eisenbetten mit wenigen Kissen und Decken waren zusammengeschoben und nahmen den größten Teil des Raumes ein, der wiederum von Neon erleuchtet war. Außer den Sesseln für den Minister und seine Frau gab es keine Sitzgelegenheiten. Stühle wurden herbeigebracht, und der König, der sich gewohnt liebenswürdig verneigt hatte, setzte sich augenblicklich und legte dem alten Mann abwehrend die Hand auf den Arm: Er möge sich keinesfalls erheben. Der Minister hatte blauschwarze Lippen und fettig-dickes, weißes Haar. Sein Gesicht bestand vor allem aus großen schwarzen Poren, die das Fleisch mürbe und in Auflösung begriffen erscheinen ließen. Sein weißer Kurta-Pajama, die Berufsuniform des demokratischen Politikers seit Nehru, war fleckig. Der König neigte den Riesenturban über den Minister, als besuche er eine alte, hinfällige Dame im Krankenhaus. Von der Frau nahm niemand Notiz. Sie hatte sich in einen hellblauen Sari und einen braunen Schal gewickelt und schien zu frieren. Die Männer brachten Tee in unsauberen Gläsern. Der König rührte voll Entzücken mit dem Blechlöffel in seinem Tee, als stehe ihm ein außergewöhnlicher Genuß bevor. Wer die Szene, wie ich, von außen sah, mußte ratlos sein, woran er da teilnahm. Der König in seinem Glanz stieg in dies Elendsquartier hinab, ungeachtet der steilen Treppe, auf der ein weniger Geübter als er leicht zu Fall hätte kommen können. Schon ich tat mich mit dem Aufstieg schwer, aber der König eilte diese Stufen hinauf wie die Freitreppe des Neuen Palastes. In diesem armen Schlafzimmer saß ein alter Mann mit schwerem, bedeutendem Kopf, ein Asket

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