Das Beben
bitte?«
»Aristokraten.«
»Aristokraten?«
»Ja, Aristokraten.«
Der König sank in Schweigen. Wog er alle Fälle ab, die ihm bekannt geworden waren, in denen indischen Fürsten von umherreisenden Herrschaften aus dem Westen, über die man letztlich überhaupt nichts wußte, der schrillste Unsinn verkauft und erzählt worden war? Stand ich irgendwo zwischen dem russischen Maler und dem Ehepaar Jenkins mit seinem ungezogenen Betragen? Wer weiß, ob, hätten wir uns im Neuen Palast befunden, die Audienz nicht jäh beendet gewesen wäre. Aber so waren wir, für Stunden noch, wie zwei Büffel nebeneinandergespannt, die ein Wasserrad drehen, wobei der König mich allerdings jederzeit auf die Rückbank hätte verbannen können. Aber das tat er nicht. Er war jetzt neugierig. Es war viel Volkstümliches in ihm, wie ich schon an seiner Gestik hatte lernen dürfen. Er war nicht nur der König, er war zugleich auch der wirkliche Repräsentant seines Volkes, wenn dieses Volk womöglich auch noch eher verschwinden würde als die Könige. Ich versuchte, den König daran zu erinnern, daß die Aristokraten allezeit die gefährlichsten Diener der Monarchie gewesen seien. Auch der russische Zar sei schließlich von den Aristokraten gestürzt worden – »Lenin war Aristokrat?«
»Kein richtiger, aus der untersten Schublade des Amtsadels, aber er hat den Zaren nicht abgesetzt, er hat ihn nur ermorden lassen.« Kerenskij, Trubetzkoi – die russischen Republikaner, die hätten den Zarenthron schließlich umgestoßen, seien von den Kommunisten dafür freilich schwer bestraft worden.
»Von den Kommunisten?« sagte der König. »Und was geschah mit Cäsars Mördern?«
»Sie wurden umgebracht, genau wie Danton und Robespierre, die Mörder des französischen Königs, und Trotzki, der Mörder des Zaren. Wenn ein König untergeht, ist es wie beim Sinken eines großen Schiffes. Es entsteht ein Sog, der viele kleine Boote mit sich in die Tiefe reißt.«
Dem König lagen terrestrische Vergleiche näher: »Wenn Könige ermordet werden, kommt es zu einem Erdbeben.«
Ich meinte jetzt zu spüren, daß der König sich unterhalten fühlte. Was er gehört hatte, war geeignet, seinen eigenen Gedankenschatz anzureichern. In seiner geistigen Schatzkammer gab es Stellagen und Truhen, die solche Gedanken, wie er sie soeben vernommen hatte, aufnehmen konnten. Das Gespräch hielt ihn wach, und das war für alle Insassen seines Wagens gut. Die Reise war im Hellen schon einförmig gewesen, nachdem wir die Bergkulisse hinter uns gelassen hatten und das tellerflache Wüstenland durchquerten, aber jetzt war überhaupt keine Veränderung mehr wahrzunehmen, außer daß hin und wieder in der goldenen Sand-Halo eine Kuh vor uns stand und uns mit einem von außerirdischem Frieden kündenden Blick ansah. Dann riß der König das Steuer herum, so daß seine Vasallen wie die Kartoffelsäcke gegeneinanderstießen.
Lange nach Mitternacht hielt der König vor einem jener schmutzigen Teezelte am Straßenrand, das genauso aussah wie jenes, in dem wir uns umgezogen hatten. Es war mir im Augenblick, als seien wir stundenlang im Kreis gefahren. Auf alten geflochtenen Ruhebetten schliefen vor dem Zelt beturbante Männer unter Bergen von Decken. Ich war vor Frost so steif, daß ich kaum die Beine bewegen konnte. Am Feuerloch des Herds stand ein kleines Kind und fuhrwerkte mit der großen Aluminium-Teekanne herum. Im Näherkommen erkannte ich, daß dies Kind gewiß schon dreißig oder vierzig Jahre alt war, ein wohlproportionierter, aber puppenhaft klein gebliebener Mensch, vor dem der König doppelt so groß wirkte. Er kannte die kleine Frau, die ihn schon in vielen Nächten bedient hatte und sich in ihrem geschäftigen, ernsthaften Walten und Herumfuhrwerken nicht beeindrucken ließ. Des Königs dichtes Haar war vom Fahrtwind verstrubbelt und stand nach allen Richtungen ab. Er trug eine schäbige dunkle Windjacke über dem Pullover und wirkte, als er dem steifgefrorenen Häuflein entgegensah, das sich aus dem Jeep herausquälte, unversehens um Jahrzehnte jünger, ein vor Übermut und glücklicher Erschöpfung strahlender junger Mann, der mit einem Haufen Freunden durch die Nächte schweift und schon drei Tage nicht zu Hause geschlafen hat. Wenn man bei anderen Staatspersonen aber gern den Unterschied zwischen ihrem offiziellen, von Protokoll und vielen Rücksichtnahmen vorgeschriebenen Gesicht und dem der Entspannung in einer gestohlenen Stunde der Privatheit
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