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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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schläft die Frau? Ich will euch nicht stören.«
    Ich fühlte mich stark. Ich schwieg. Diese Herausforderung ließ ich einfach auf den Boden fallen, ohne mich danach zu bücken. Auf der Galerie griff sie wahllos in einen Papierstapel. Das Blatt in ihrer Hand trug eine Skizze für einen Speiseaufzug im Alten Fort, eine Pflichtübung von auserlesener Sinnlosigkeit. Wir sahen aus dem Fliegendrahtfenster auf die tief unten brodelnde und gedämpft tosende Stadt, eigentlich nur ein Dorf, aber die Geräuschwolke war wie über einem städtischen Organismus schwebend. Viele Kinder ließen heute Drachen steigen, als wollten sie Manon begrüßen. Wie die Schwalben schossen die gelben und roten Papierrechtecke durch die Lüfte.
    »Wie sieht es aus mit dem Zirkus? Kommst du voran?« Die Frage war nur noch mit gespielter Sicherheit gesprochen, aber ich fühlte, daß ich errötete, und vermied, Manon anzusehen. Wir hatten uns seit ihrer Ankunft nicht berührt, nicht einmal die Hand zur Begrüßung gereicht. Ich hatte sie genaugenommen überhaupt nicht begrüßt. Die Verneigung mit gefalteten Händen kam ihr gegenüber, so empfand ich, nicht in Frage. So war sie wie eine Erscheinung im Traum zu mir gekommen, die man gleichfalls nicht begrüßt, sondern die man erwartungsvoll ansieht. Was wird sie tun? Sie hatte sich auf eine schwierige und nicht ungefährliche Reise begeben – um mich wiederzusehen? Aber mit dieser Reise hatten sich auch die Gewichte der Ereignisse verschoben. Hätten wir uns Stunden nach dem Auftritt in der Untergrundbahn oder Tage oder auch Wochen danach zu Hause oder auf der Straße zufällig oder geplant getroffen, wäre ich es gewesen, der Erklärungen von ihr hätte verlangen dürfen. Aber nachdem ich meine Abreise vor ihr verborgen hatte und mich in Sanchor ihren Blicken entzog und willenlos zusehen mußte, daß sie mich hier aufstöberte, war es zu spät, überhaupt noch einmal auf das trennende Ereignis zurückzukommen.
    Ich war ihr dankbar, daß sie meine Anspielung auf den »Indisch-magischen Zirkus« nicht zur Kenntnis nahm, leitete daraus aber auch das Recht ab, nichts über Iris zu sagen. Hatte ich mich darauf gefreut, sie wiederzusehen? Meine Ratlosigkeit war jetzt größer als meine Freude. Wir schlenderten durch die Galerie, durch die leeren Säle. Sie sah in den Speichersaal hinein, in dem sich nichts bewegte. Wir wandelten weiter wie auf einem Weg durch eine fremde Stadt.
    Was versiegelte mir den Mund? Hier war sie, deren Gegenwart ich heimlich ersehnt hatte, aber diese Gegenwart machte mich nicht glücklich, und sie selbst war offenbar auch nicht wirklich beruhigt. War sie dem Meister davongelaufen, um ihn eifersüchtig zu machen und ihn zu bewegen, daß er sie suchte und zurückzuholte? Es war aber auch möglich, daß sie wirklich an mir hing, daß ihre Rückkehr zu mir ein aufrichtiger Versuch sein sollte und daß sie es ernst mit mir meinte. Es war möglich, daß sie mich nicht liebte, aber Hilfe von mir erwartete, Verständnis, Mitgefühl, einen Ausweg aus ihren Gefühlsknäueln. Es war möglich, daß sie ganz unfreiwillig verfahren war, Leute, die ihr davonliefen, mußte sie einfach verfolgen, wie ein kleines Raubtier, das auch ohne Hunger töten muß. Jetzt war sie da, hatte mich aufgespürt, kostete den Triumph, die Herausforderung der Jagd bestanden zu haben, und wußte nicht weiter. Es war möglich, daß sie wegen Iris Eifersucht empfand, obwohl sie das nie zugeben würde. Es war möglich, daß ein Luftballon an Erwartung aufgestochen wurde, als sie feststellte, daß ich mich nicht einsam nach ihr verzehrte. Es war möglich, daß sie sich über sich selbst ärgerte; daß sie mir in der Untergrundbahn hinterhergelaufen war, daß sie vor den stoischen Japanern die Tür hatte öffnen wollen und mit dem Zug mitgerannt war. Vielleicht war sie nur gekommen, um zu verhindern, daß diese Szene die letzte war, die ich von ihr im Auge behielt?
    »Liebende, sich wiederfindend« – gab es jemals ein derart ratloses Liebespaar wie uns? Wir waren allein am Ende der Welt. Niemand stand zwischen uns, und dennoch empfanden wir ein Hindernis. Auf meinem Schreibtisch lag, beinahe ganz auseinandergefallen, das einzige Buch, das ich im Monsun-Palast gefunden hatte, das Deckblatt war verlorengegangen, das holzhaltige Papier zerbröselte mir unter den Augen beim Lesen.
    »Sieh mal, was die weisen Inder einem Mann raten, der sich mit einer Frau beschäftigen möchte«, sagte ich unversehens, als wir an den

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