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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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erworbenen Schals – keiner war so schön wie der, in dem ich sie kennengelernt hatte – trug sie nichts Indisches am Leib. Eine Klette war durch die Luft gerollt und an ihren Rock geweht, wo sie sich jetzt mit ihren feinen Häkchen festhielt. Und da beugte sich der König zu dieser Klette hinab und begann, sie mit großer Behutsamkeit und Geschick, und indem er sich viel Zeit nahm, aus dem Gewebe zu lösen, ohne Fädchen herauszuziehen. Manon stand still wie ein Baum. Sie ließ die Operation, die der König vornahm, als sei sie das wichtigste Vorhaben auf der Welt, geduldig über sich ergehen. Schließlich zeigte er ihr die Klette auf seinem glatten, hellolivgelben Handteller. Dort rollte sie und konnte sich in nichts verhaken.
    Ich blieb ein wenig zurück, während sich die Gesellschaft auf das Tempeltor zubewegte. Der König sprach mit Manon, wenige Worte nur, sie antwortete bescheiden, ich möchte sagen: geradezu lieblich. Ein falscher Ton klingt für unser Ohr bei diesem Wort mit, wie bei süßlichem Wein, aber ich zweifle, daß der Herrscher das so empfand, und hielt Manon auch das Recht auf eine gewisse Künstlichkeit zugute, nachdem sie so lange wie Luft behandelt worden war. Das Picknick hatte genausolang gedauert, wie die Arbeiter mit der Motorsäge hantierten. Jetzt, da die Säge schwieg und die mit ihren Stirnbinden geschmückten Arbeiter Tee tranken und Linsenbrei aßen, war auch das Picknick aufgehoben. Rein drang der süße Harmonikaakkord in jeden Winkel meiner Seele, die auf wehe Lust gestimmt war. Der Sehnsuchtsgesang »Shivaaa« des Tempelsängers schwang sich ungestört in die Lüfte. Ich meinte, er lasse die bunten Tempelfähnchen flattern, die die Kuppel des Heiligtums wie die Wimpel auf einem Segelboot umrahmten. Ob der goldene Nandi-Bulle in seinem köstlichen Leib – die beiden Hoden sahen aus, als brüte er auf goldenen Ostereiern – auch für die Gefahren der Gegenwart Abhilfe in sich barg? Purhoti wußte alles über das Wesen der politischen Feindschaft, aber in seinem Mandala waren die unsichtbaren Heere nicht vorgesehen, jene rätselhafte Verwandlung der Geistes- und Denkungsart, die Völker im Schlaf überfiel und mit der Atemluft in das Blut eindrang.
    Ach, dieses elende Reflektieren, die Verführbarkeit durch Stimmung. Ich hatte Grund, meine Verträumtheit zu verfluchen. Als ich den Tempel verließ, war der königliche Jeep und auch der Ambassador schon abgefahren. Manon war verschwunden. Eben noch hatte man sie mißachtet, und nun war sie allzugut einbezogen, ohne daß man meiner noch gedacht hätte. Oh, selbstverständlich hatte man meiner gedacht. Am Hof von Sanchor beherrschte man die hohe Kunst der Logistik, das Hin- und Herbefördern der Gesellschaft dieses so hochbeweglichen Hofes. Dr. Sharma erwartete mich mit überquellender Höflichkeit. Er bot an, mich auf dem Rücksitz seines Motorrads nach Hause in den Monsun-Palast zu befördern. War das nicht rücksichtsvoll und aufmerksam? Worüber beschwerte ich mich? Die Palmenhaine, die mich auf der Hinfahrt so entzückt hatten, die hätte ich jetzt, vom Fahrtwind umbraust und mit den Händen auf den dicklichen Hüften des Arztes, doch viel besser bewundern können. Verheißungsvoll habe ich die Abend- und Morgenröte in Sanchor genannt, aber für ihre Verheißungen blieb ich jetzt taub.
    Ich verabschiedete mich fahrig von Dr. Sharma. Ich fürchte, ich wurde seinem Wunsch, mit mir zu plaudern, nicht gerecht. Weder der Jeep noch der Ambassador standen vor dem Haus unter den gerupften Eukalyptusbäumen. Ob ich den Abend nicht im Kreis der Neun Musen verbringen wolle? Er werde dort neue Gedichte zu Gehör bringen, und zwar nicht nur rezitierend, sondern auch singend. Ein Künstler sei anwesend, der dem Synthesizer Erstaunliches entlocke. So oder so – ich dürfe Sanchor nicht verlassen, ohne den Neun Musen einen Besuch abgestattet zu haben. Was mochte er sich bloß unter den neun Musen vorstellen? Zu welchen synkretistischen Gottheiten mochten die Begleiterinnen des Apollo hier geworden sein, mit Tierköpfen und kugelrund stehenden Ballonbrüsten womöglich? Die Vorstellung, jetzt nicht augenblicklich mit Manon zu sprechen, war eine Qual. Nein, tausend Dank, keine Musen heute Abend, aber ich war immerhin fähig, mein Gesicht in fromm-liebevollem Namaste-Gruß aufleuchten zu lassen, bevor ich mich beinahe brüsk abwandte und der Fliegendrahttür entgegenstürmte.
    Manon war nicht da. Ich suchte sie in allen Zimmern meiner Suite und

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