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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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vermittelten den Eindruck, Manon sei genau angemessen und vorbildlich gekleidet, als könne eine Frau wie sie sich in diesem Sommer nur in ebendiesem Aufzug vor anspruchsvollem Publikum zeigen. Ihr Körper war zartgliedrig und zugleich voll. Lange untersuchte ich ihren Bauchnabel, der aussah, als öffne sich an seiner Stelle ein schneckenhausartiges Gewinde in ihren Leib hinein. Mir wurde plötzlich sichtbar, wie sich Geist und Seele eines Menschen in seinen Körper verströmen. Ich vermutete, daß ihre dunklen Knie kühler seien als die Haut der Schenkel, und fand in dieser weichen Kühle den ganzen Ausdruck ihrer Person, auch in ihren schmalen, aber langen Füßen mit hohem Spann, die ich mir kalt vorstellte. Und so wurde in der Betrachtung dieses stummen, für mich aber immer beredteren Körpers auch der überraschende Kuß, den ich unvermittelt von ihren Lippen empfangen hatte, zu einer Offenbarung ihrer Persönlichkeit: diese jähe, aber keinesfalls eindeutig erotische Mitteilung, die, wie ich mich wohl erinnerte, nicht mir allein gegolten hatte. Ein braunhäutiger Mann mit viel Gold am Leib hatte zuschauen müssen, ohne sich zu regen.
    Weckte das Photo in mir den Wunsch, Manon wiederzusehen? Nein, das kann ich beschwören, daran dachte ich keinen Augenblick. Ich sah das Bild und noch mehr die darauf Abgebildete als Kunstwerk. Man verabredet sich nicht mit der Venus von Milo – schon reut mich dieser Vergleich, denn Manon besaß Arme, deren Anschwellen und Schlankwerden um die Handgelenke sie hoch über die vielphotographierte Göttin erhob.
    Nackt ist ein schönes und sprechendes Wort. Das akustisch Packende an der Nacktheit liegt wohl in dem Zusammenklang von A und K und T verborgen, dem auch »gelackt« und »befrackt« ihre Straffheit und Frische verdanken. »Ich kenne dich nackt«, das war ein angenehm zu denkender, ein die Phantasie erwärmender Gedanke. Und er stellte sich augenblicklich ein, als ich Manon zum drittenmal begegnete, nun wieder in Fleisch und Blut.
    Der Ort war trist, die Visa-Abteilung des indischen Generalkonsulats. Hier blickten von großen Photographien Mahatma Ghandi und Mutter Teresa auf uns herab, mit solch guten, ja heiligen Menschen schmückte sich der indische Staat an dem Ort, wo er mit Ausländern in erste Fühlung trat. Das Neonlicht und der von grünlichem Panzerglas gesicherte Schalter, hinter dem der griesgrämige Konsularbeamte saß, gaben aber gleich zu erkennen, daß das Land, in dem diese Heiligen gewandelt waren, ein Staat war wie andere auch. Ich hatte mein Antragsformular für das Visum empfangen und stand nun an einer Art Pult, um es auszufüllen. »Zweck der Reise«, hieß es da, und ich schrieb: »Geschäftlich«. Eine dänische Touristikplanungsfirma war an mich herangetreten. Es ging um die Prüfung eines Hotelentwicklungsprojektes im südlichen Radjastan. Eine der alten Fürstenfamilien dort gedachte, nun gleichfalls jenen Pfad zu betreten, auf dem die abgesetzten Maharadjas rund um Delhi schon seit längerem gutes Geld verdienten. Ich war stolz, daß mein Ruf als Verwandler von Schlössern in Hotels bis nach Kopenhagen in die Büros dieser finanziell sehr potenten Gruppe gelangt war, obwohl ich dem Vorhaben nach einem Blick auf die Landkarte wenig Chancen gab. Sanchor lag fernab von den Trampelrouten des Luxus-Tourismus. Den Dänen waren großzügige Strategien jedoch zuzutrauen. Wer wußte schon, in welchem länderumspannenden Netz dies ferne kleine Sanchor einen Knoten bilden sollte? Absagen konnte ich immer noch, wenn ich die Umstände kannte. Mein Visum beantragte ich für ein halbes Jahr, um ohne weitere Wartezeit abreisen zu können, wenn sich einmal zwei freie Wochen auftaten.
    Ich entdeckte Manon, bevor sie mich erkannte. Als ich den Kopf von meinem Formular hob, sah ich in der Warteschlange vor dem Schalter eine Frau, deren großer Körper von grauem, dünnem Stoff umspannt war. Der strenggeschnittene Hosenanzug schien zu sagen: »Ich weiß wohl, daß dieser Körper eine Augenweide und ein Sinnenfest ist, aber ich dämpfe diese Wirkung, denn hier geht es nicht um Freude und Schönheit und Bewunderung herrlicher Formen, sondern um strenge vormittägliche Geschäfte. Ich bin an diesem Körper eigentlich überflüssig, hinzuzufügen habe ich ihm nichts, nur wegzunehmen. Aber das soll diskret geschehen. Im Grunde wäre Unsichtbarkeit mein Ziel – nun, das werde ich bei dieser Frau niemals erreichen, aber ich will wenigstens so tun – du, lieber

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