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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Betrachter, berücksichtige diesen Wunsch und senke die Augenlider und sei so zurückhaltend in deiner Bewunderung wie dieses zarte Grau.« Es war deutlich, auch Manon war hier in geschäftlicher Mission. Vor ihrer Brust hielt sie eine dünne Mappe aus rotem Leder, in der gewiß nur wenige Blätter lagen, eine Andeutung von Akten und Geschäftspapieren, gerade so viel, daß sie nicht zur Last fielen. In ihrer Miene lag der gesammelte Ernst jener tiefen Zufriedenheit, die aus der Pflichterfüllung herrührt, kaum Notiz nimmt. Jetzt sollte sie ihren Papierbogen erhalten, zugleich aber ihren Paß zeigen. Wo war nur der Paß? Außer der Mappe trug sie an der mir abgewandten Schulter eine große Handtasche. In ihr mußte der Paß verborgen sein, das schwor sie, geläufig und mit gutem Akzent englisch sprechend. Sie lächelte und schüttelte über sich selbst den Kopf. In der Handtasche rührte sie herum, daß es leise schepperte. Die Leute hinter ihr machten böse Gesichter. Sie alle hielten ihre Pässe in der Hand, sie hatten keine Zeit und verursachten anderen keinen Zeitverlust. Aber wer nicht empfänglich war für solch ein rührendes Lächeln und für solche Selbstironie und die Bereitschaft, sich selbst absurd und komisch zu finden, der sollte ruhig böse gucken, dachte ich, während sie vergeblich kramte und lächelte, und hielt mich zu ihrer Verteidigung bereit, falls der Volkszorn sich regen sollte.
    Fand sie den Paß? Jedenfalls stand sie unversehens neben mir, ohne das mindeste Erstaunen.
    »Sind diese altertümlichen Formulare nicht schön?« sagte ich zu ihr, als hätten wir uns nie getrennt. Ich lobte das Dichtgedrängte, die Buchstaben, die immer noch im Buchdruck gesetzt waren und die Schrift geradezu ertastbar machten, das Tanzen mancher Buchstaben, die nicht exakt auf der Linie standen. Die Striche waren noch aus Bleilinien zusammengesetzt und unterbrochen, wo eine neue Linie angesetzt war. Ich sang, während ich Manon ansah, ein Loblied auf die Rückständigkeit. Nur die Rückständigkeit sei es, die den Gegenständen des Alltags zu Sichtbarkeit verhelfe. Ein neuer Briefkasten, ein neues Fahrrad, ein neues Formular, ein neuer Wasserhahn seien unsichtbar, wir nähmen sie als Selbstverständlichkeiten hin und könnten sie kaum beschreiben, wenn wir sie auch täglich benutzten. In unserer Welt beständiger Innovation gehe es im letzten darum, die Gegenstände des täglichen Lebens in andauernder, durch Zeitgenossenschaft garantierter Unsichtbarkeit zu halten.
    »Wenn ein Wasserhahn fünfzig Jahre alt geworden ist, tritt er aus seiner Unsichtbarkeit auf einmal wieder heraus, wir sehen ihn wieder«, sagte ich mit einem Nachdruck, der an diesem Pult unter diesen Neonröhren und dem väterlichen und mütterlichen Lächeln der Heiligen unfreiwillig komisch wirken mußte. Ich redete wie ein Wasserfall, wie bei jenem Referat über das Umbauen alter Gemäuer in neue Hotels, das ich auf Befehl der Eltern Gran zur Unterhaltung ihrer Tochter gehalten hatte. Es war, als sei damals, in dem historischen Augenblick meiner ersten Begegnung mit Manon das Gesetz formuliert worden, das unsere Begegnungen hinfort regierte: Ich würde atemlos allen möglichen Theorienkehricht herbeifegen und Schaugerüste daraus aufrichten, und sie würde die atemlos und hingegeben Lauschende spielen. Spielen – oder war sie nicht doch ein wenig beeindruckt? Ihre Augen hingen groß und sanft an meinen Lippen, sie studierte meinen Mund, sein Auf- und Zuklappen, und schließlich, als ich Atem holen mußte, sagte sie langsam und mit warmer, inniger Stimme: »Ja, genau.«
    Es war noch früh am Vormittag. Ich bemerkte eine hübsche, leichte Geschwollenheit in Manons Gesicht, als sei sie noch nicht lange aus dem Bett gestiegen. Wenn sie keine Visa beantragte, stand sie gewiß nicht so früh auf. In der Nähe lag ein Hotel, ganz neu etabliert und für mich also wirklich vollkommen unsichtbar, aber das war eine gewillkürte Blindheit, ich bin geradezu allergisch gegen von anderen Leuten konzipierte Hotels. Dorthin schlenderten wir, absichtslos und jedenfalls unverabredet – nein, Manon hatte tatsächlich noch nicht gefrühstückt, ja, sie hatte Zeit für eine kleine, eine einzige Tasse Kaffee oder noch besser Tee. Die Halle war leer, die Sessel waren tief, warmes Licht kam aus einer Lampe mit goldenem Schirm.
    Wie richtig hatte ich erkannt, daß sie in ernsten Angelegenheiten unterwegs war. Sie unterstütze einen Freund bei einem großen

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