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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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unterbrach ich mich, es könnte tatsächlich sein, daß sie eine Art Ehrendienst an der Kunst leistete.
    Der zweite Anruf bei dem Meister war nicht der letzte. Wir saßen nah beieinander und sprachen leise und vertraut, als kennten wir uns seit langem, aber wenn wir schwiegen, dann führte der liebevolle Blick, den sie mir schenkte, unweigerlich zu einer neuen Bitte um Geduld und einem neuen Aufklappen des silbrigen Puderdöschens. Ihre Miene verfinsterte sich dann. Mit wem immer sie dort sprach, der Meister blieb unerreichbar, und Manon wurde bei jedem ihrer vergeblichen Versuche härter und spitzer. Jedesmal überwand sie die kleine, unruhevolle Nachdenklichkeit nach dem Zuklappen des Telephons schnell und wandte sich mir noch schmelzender und bereitwilliger wieder zu. War es wie bei ihren Eltern, als sie ihren Entschluß auszugehen, in einer besonders zärtlichen, gleichsam zeitlosen Entspanntheit verborgen hatte?
    Das Büfett war längst abgeräumt, aber die gescheiterten Gespräche machten Manon hungrig. Wenn sie die Stimme des Meisters nicht zu hören bekam, mußte sie offenbar etwas Salziges oder Süßes in den Mund stecken, und so bestellte sie noch mehrere kleine Gerichte nach der Karte, von denen sie keines aufaß. Ihr Rhythmus war Essen, Flüstern und Telephonieren, und ich ließ mich davon einnehmen und einspinnen und verzaubern.
    Der erste Kuß von Manon war ein bizarrer Einfall gewesen, eine Art »acte gratuit«, der mich verdutzt zurückgelassen hatte. Keinen Augenblick glaubte ich, daran anknüpfen zu dürfen. Die Stimmung unseres Zusammenseins jetzt unterschied sich von der ersten Begegnung durch eine unvergleichlich gesteigerte Vertraulichkeit, aber auch durch eine Gespaltenheit und Zerfahrenheit, die mich geradezu trunken machte vor Verwirrung. Nichts konnte ich so eindringlich darlegen, daß sich nicht doch ein weiterer Telephonversuch daran angeschlossen hätte. Manon stand unter einer Spannung, die sie zerriß. Sie ließ alle Manieren fahren, zerriß die Schinkenscheiben mit den Händen, leckte sich die fein durchgebildeten Fingerspitzen ab und tippte wieder auf ihrer Telephontastatur. Dann kam ein Augenblick, in dem sie unversehens innehielt und mich verzweifelt ansah. Sie sammelte ihre Kräfte, um die sie belagernden Dämonen mit entschlossener Tat zu bannen.
    »Jetzt küssen wir uns«, sagte sie, als kapituliere sie vor dem Unausweichlichen. Die Hotelhalle war nicht bevölkert, doch auch keine einsame Waldlichtung. Was machst du, bist du verrückt geworden, dachte ich, während ich mich in einen langen, schier endlosen Kuß hineinsinken ließ. Als ich mit rotem, feuchtem Gesicht daraus emportauchte, stand der Kellner vor mir, die Rechnung in der Hand. Noch heute sinne ich nach über das Rätsel dieses ersten großen Liebesvormittags. Manon war von der ungezwungensten, weltläufigsten Eleganz, und doch war alles an diesem Zusammentreffen ein Desaster, voller Entgleisungen, Verhuschtheiten, Peinlichkeiten. Ich benahm mich mit ihr wie ein Schuljunge auf der Kirmes. Sie sah den Kellner, der wer weiß wie lange unserem Kuß zugesehen hatte, ernsthaft an, nichts dämpfte ihre Selbstgewißheit. Und so wunderte ich mich denn auch nicht, als sie es ablehnte, zu mir nach Hause zu fahren. Ich solle jetzt hier sofort ein Zimmer nehmen. Ja, das war mir klar, das war die einzige Möglichkeit. Wir waren die einzigen Menschen auf der Welt. Das Personal hatte nur Schattenkörper. Der junge Mann an der Rezeption, der uns wahrscheinlich gleichfalls beobachtet hatte, war von leidenschaftsloser Korrektheit. Als ich zu Manon zurückkehrte, sprach sie mit gerunzelter Stirn in ihr silbernes Döschen, ließ es aber zuschnappen, als ich näher kam.
    Im Aufzug standen wir wie Fremde nebeneinander und vermieden, uns anzusehen. Ich dachte an Dr. Grothe, der in einer halben Stunde in mein Büro kommen würde, um den längst überfälligen Plan für das Mecklenburger Schloßhotel mit mir durchzugehen. Jetzt war er wohl schon unterwegs. Ich hatte immer noch Gelegenheit, Anna Pfeiff anzurufen und ihr zu sagen, daß ich nicht käme. Auch wenn ich nicht die Nerven hatte, sie zu belügen, und noch weniger, ihr die Wahrheit zu sagen, hätte ich immerhin in beschwörender Dringlichkeit einen einzigen Satz in den Hörer rufen und die Erklärungen auf später verschieben können. Herr Dr. Grothe saß jetzt wohlgemut und hoffnungsvoll im Auto und dachte an die bevorstehende, zum Glück in letzter Minute noch zustandegekommene

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