Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
Vom Netzwerk:
zurückkam, und drehte mich zum Fenster, um die kahlen Kastanien zu betrachten, denn ich wagte nicht, sie noch einmal nackt zu sehen. Frauen wie Manon brauchen oft lange, bis sie angezogen sind, aber sie war, so schien mir, in Sekunden fertig. Ihr Gesicht war immer noch gerötet, aber jetzt von viel kaltem und heißem Wasser. Sie hatte sich nicht wieder geschminkt, ihr Haar war gebürstet, aber ohne den Versuch, eine schöne Frisur herzustellen, es lag platt um den Kopf. Sie lächelte traurig, und als ich sie stumm und betreten ansah, machte sie wieder ein Clownsgesicht und wackelte drollig mit dem Kopf.
    Wir verließen das Zimmer und gingen durch den langen Hotelkorridor, der im vierten Stock lag und zehn Meter unter der Erde hätte liegen können. In der Halle hielt ich am Pult der Rezeption an, um zu zahlen. Sie küßte mich leicht auf die Wange und ging mit ihren großzügigen, schönen Bewegungen davon. Das war ein Abschied für immer. Der kleine trockene Kuß, der mir ihren Körper noch einmal nahegebracht hatte, löste eine stille Explosion in mir aus. Ich wurde von einem Glücksgefühl durchströmt, das in seiner Fülle und Reichlichkeit einen Ausweg suchte. Mir war, als stiegen Tränen in meine Augen.
    Das Büro fand ich verwaist. Auf meinem Schreibtisch lag ein Zettel von Anna Pfeiff: »Dr. Grothe hat eine gute Stunde auf Dich gewartet und ist dann weggegangen. Er legt die Pläne jetzt in Hamburg vor und hofft, daß man die Änderungen später noch anbringen kann.«
    Das war schlimm, genau das hatte ich befürchten müssen, als ich ihn nicht anrief. Anna Pfeiff war auch sonst nicht untätig geblieben. Sie hatte meinen Papierkorb geleert und etwas gefunden, was ihr Eindruck machte. Auf ihrer Filzwand, auf der sie Urlaubspostkarten anzuheften pflegte, prangte jetzt der nackte Meister mit Sanjasi-Bart, magerer Asketenbrust und dem Unschuldsgebammel zwischen den Beinen. Seine rechte Hand war abgeschnitten. Ich wußte, daß sie den Meister verehrte. Erfolglos hatte ich einen leicht stichelnden Krieg gegen den großen Kalender mit Aborigines-Spiralen im Vorzimmer geführt; sie ließ mich den Januar abwarten, bis ein Mapplethorpe-Kalender voll weißer Wachslilien ihn ersetzte.
    Auf ihrem Schreibtisch fiel mir eine zweite Nachricht auf, die sie in der Minute ihres Aufbruchs entgegengenommen hatte und mir wohl erst morgen überreicht hätte: »Eine Frau Dr. Gran hat angerufen und bittet dringend um sofortigen Rückruf.«

5.
Manon läßt sich frisieren
    Manons Haar war sehr fein. Es kitzelte mich in der Nase, wenn ich einer Strähne zu nahe kam, so daß ich niesen mußte. Ich dachte an die kleine Alice, die durch den viktorianischen Spiegel über ihrem Kinderzimmerkamin in den Zaubergarten der sprechenden Blumen gelangt, wo sich die Blumen über ihr Haar unterhalten; diese Pflanze habe unglaublich lange und feine Staubfäden, sagen sie über das Mädchen. Manon wirkte blond, ohne es zu sein. Ihre Haarfarbe war genau betrachtet schwer zu beschreiben, ein feines Hasenfell-Umbra mit silbrigen und goldenen Fäden, bei günstiger Beleuchtung meinte ich sogar Grau- und Grüntöne in dem kühlen Braun zu entdecken. Viel schien sie mit diesem Haar nicht zu unternehmen. Sie sah jedenfalls niemals aus, als komme sie vom Friseur. Ihr Haar duftete und schimmerte eben von Natur aus. Ich glaubte zunächst, sie lasse den Friseur nur an sich heran, wenn sie mit ihren Eltern ausging. Auf einem Photo aus Salzburg sah ich sie mit Fernsehansagerinnenlocken, weich und großzügig und dennoch irgendwie perückenhaft. In Wahrheit war der Friseur ein wichtiger Mensch in ihrem Leben, vielleicht sogar der wichtigste, der Mann, dem sie kindlich vertraute, der nichts von ihr verlangte, der ihr zuhörte und sie beriet, ohne böse zu sein, wenn sie seinen Rat nicht befolgte. Ganz selbstlos war der Mann nicht. Er erwartete und durfte erwarten, zu jeder Zeit zu Manon vordringen zu können. Ihre Eltern und Geliebten mochten vergeblich auf einen Rückruf warten, während dieser Mann sich in innigem, mühelosem Austausch mit ihr befand.
    So erwachte ich schon in einer unserer ersten Nächte von einem stetigen Murmeln, das in meinen Traum drang, und brauchte im Dunkeln einige Zeit, um zu verstehen, daß Manon unter ihrem Kopfkissen, von mir abgewandt und ganz in sich zusammengerollt, telephonierte.
    »Sie müssen darüber schlafen und vorher ein schönes Bad nehmen«, sagte sie sanft und liebevoll. »Sie machen sich jetzt ein wunderbares Ölbad und

Weitere Kostenlose Bücher